30.06.2020Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht Juni 2020

Auch An- und Abfahrtszeiten sind „Arbeitszeiten“ – BAG stärkt Rechte von Außendienstlern

BAG, Urteil vom 18. März 2020, 5 AZR 36/19

Sachverhalt

Der Kläger ist als Servicetechniker im Außendienst beschäftigt. Das beklagte Unternehmen ist aufgrund der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden. Der Kläger fährt arbeitstäglich von seiner Wohnung zum ersten Kunden und kehrt vom letzten Kunden wieder dorthin zurück. 

Nach dem Manteltarifvertrag (im Folgenden als „MTV“ bezeichnet) sind sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflichten erbringt, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten. Eine explizite Regelung zu Fahrtzeiten fehlt. Eine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen enthält der Manteltarifvertrag ebenfalls nicht. Der Arbeitsvertrag des Klägers enthält eine dynamische Bezugnahmeklausel, wonach die einschlägigen Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis angewandt werden. 

Neben der tariflichen Regelung besteht bei der Beklagten seit dem Jahr 2001 eine Betriebsvereinbarung zur „Ein- und Durchführung von flexibler Arbeitszeit für Servicetechniker“ (im Folgenden als „BV“ bezeichnet). In § 8 der BV ist bezüglich der An- und Abfahrtszeiten folgendes geregelt: 

„Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden zählen nicht zur Arbeitszeit, wenn sie 20 Minuten nicht übersteigen. Sobald die An- oder Abreise länger als 20 Minuten dauert, zählt die 20 Minuten übersteigende Reisezeit zur Arbeitszeit. Insoweit sind für den Kundendiensttechniker jeweils 20 Minuten Fahrtzeit für An- und Abreise zumutbar.“

Der Kläger begehrt mit seiner Klage Vergütung bzw. Anrechnung auf das Arbeitszeitkonto in Höhe von 68 Stunden und 40 Minuten, die er mit An- und Abfahrten verbracht hat und die bisher unbeachtet geblieben sind, da sie die 20 Minutengrenze nicht überschritten haben. 

Entscheidung

Entgegen der Vorinstanzen sieht das BAG die Klage als begründet an und hebt das Urteil des LAG Düsseldorf – unter Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auf. 

§ 8 der BV verdränge – entgegen der Ansicht des LAG Düsseldorf – nicht die Regelungen des Tarifvertrages. Insoweit gelte die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG. Die BV nehme nach dem MTV vergütungspflichtige Arbeitszeit aus der Entgeltzahlungspflicht aus. 

Erbringe der Arbeitnehmer seine Tätigkeit außerhalb des Betriebs, gehöre auch das Fahren zu der auswärtigen Arbeitsstelle zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten. Das wirtschaftliche Ziel der Beschäftigung des Klägers seien Besuche bei Kunden – sei es für Servicedienstleistungen oder Geschäftsabschlüsse. Die damit verbundenen Arbeitswege müssten mit der Dienstleistung als Einheit betrachtet werden und stellten deshalb ebenso vergütungspflichtige Dienstleistungen im Sinne der §§ 611, 611a BGB dar wie die eigentliche Dienstleistung (vgl. auch BAG, Urteil vom 17. Oktober 2018, 5 AZR 553/17). 

Unabhängig von dieser Frage beurteilt das BAG im Anschluss die Frage, ob bzw. wie solche Wegstrecken zu vergüten sind. So seien grundsätzlich abweichende Regelungen im Arbeits- oder Tarifvertrag denkbar, bis hin zum völligen Ausschluss der Vergütung, solange die Vergütung für geleistete Tätigkeiten nach dem Mindestlohngesetz nicht unterschritten wird. 

Die Beklagte kann sich nicht auf einen Ausschluss der Vergütung bis zu einer Grenze von 20 Minuten nach § 8 BV berufen. Der Anwendbarkeit des § 8 der BV stünden die Binnenschranken des BetrVG entgegen. Nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG könnten Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Der MTV regele die Vergütung für geleistete Arbeit umfassend und abschließend. Dazu hätte es keiner expliziten Regelung der Fahrtzeiten bedurft. Eine Gesamtschau der Regelungen ergebe, dass eine umfassende Regelung der Vergütungspflicht erfolgen sollte. 

Eine Öffnungsklausel zu Gunsten abweichender Betriebsvereinbarungen haben die Tarifvertragsparteien nicht vorgesehen. Mit § 8 der BV verfolgten die Betriebsparteien ebenfalls eine Regelung der Vergütung, indem sie Zeiten, die unter der 20 Minutengrenze anfallen, dem Synallagma von Leistung und Gegenleistung und damit dem Vergütungsanspruch des Klägers, entzögen. § 8 der BV sei daher teilnichtig gemäß § 139 BGB. Dem stehe auch nicht entgegen, dass es sich bei der Regelungsmaterie des § 8 der BV um eine Angelegenheit der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG handele. Der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG führe auch im Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 BetrVG zur Unwirksamkeit der Regelung, die der tariflichen Bestimmung entgegensteht, da die Beklagte tarifgebunden ist.

Bewertung / Praxis-Hinweise

Die Rechtsprechung unterscheidet grundsätzlich zwischen Zeiten, die der Arbeitnehmer „eigennützig“ zurücklegt und solchen, die er in Ausübung seiner Tätigkeit außerhalb des Betriebs erbringt. Eigennützig zurückgelegte Zeiten, wie zum Beispiel der Weg von der Wohnung zum Betrieb, stellen keine Arbeit für den Arbeitgeber dar und sind nicht zu vergüten. Anders sieht dies bei Arbeitswegen in Ausübung der Tätigkeit aus. Diese sind zu vergüten (vgl. BAG, Urteil vom 17. Oktober 2018, 5 AZR 553/17; Urteil vom 18. März 2020, 5 AZR 36/19).

Arbeitgeber haben ein großes Interesse daran, vergütungspflichtige Fahrtzeiten, die Kunden nicht weiterberechnet werden können, aus der Vergütungspflicht auszunehmen. Dabei stehen sich die Betriebsparteien häufig mit konträren Verhandlungspositionen entgegen. Dem Betriebsrat ist an einer möglichst umfassenden Vergütung gelegen, wohingegen der Arbeitgeber möglichst wenig „Leerlauf“ vergüten möchte. Resultat sind Betriebsvereinbarungen, die – wie im zu entscheidenden Fall des BAG – einen Kompromiss darstellen (20 Minuten nicht zu vergüten, darüber hinausgehende Zeit wird vergütet o. ä.).

Die Entscheidung des BAG bildet zunächst eine Einzelfallentscheidung für die tarifunterworfenen Unternehmen im Bundesland Niedersachsen. Nichtsdestotrotz sollten auch Unternehmen anderer Bundesländer die tariflichen und betriebsverfassungsrechtlichen Reglungen, die für sie Anwendung finden, überprüfen. Findet sich in den tarifvertraglichen Regelungen eine umfassende Regelung der Vergütung ohne eine entsprechende Öffnungsklausel für die Betriebsparteien, können diese von den tariflichen Regelungen nicht durch Betriebsvereinbarung abweichen. Von einer umfassenden Regelung kann – im Einklang mit der Rechtsprechung des BAG – auch dann schon ausgegangen werden, wenn die Fahrtzeiten nicht explizit geregelt sind, aber eine Gesamtschau der Reglungen darauf hindeutet, dass eine umfassende Regelung erfolgt ist. 

Vor diesem Hintergrund sollten bei arbeitsvertraglichen Verweisen auf Tarifverträge zuvor dessen Regelungen durch den tarifgebundenen Arbeitgeber überprüft werden. Nach der Rechtsprechung des BAG muss ein entsprechender Tarifvertrag keine explizite Regelung zu Fahrtzeiten enthalten, um diese dennoch vergütungspflichtig zu machen. Hier lauern – je nach Häufigkeit und Menge der eingesetzten Außendienstmitarbeiter – erhebliche finanzielle Fallen für tarifgebundene Arbeitgeber.

Die Besonderheit der Entscheidung ist, dass der Arbeitgeber qua Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband tarifgebunden war und insofern gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG eine entgegenstehende tarifliche Regelung „bestand“. Dieses Merkmal ist nur erfüllt, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Die Regelung steht im Gegensatz zu § 77 Abs. 3 BetrVG, in dessen Anwendungsbereich es genügt, dass das Unternehmen dem Anwendungsbereich eines TV unterfällt; Tarifbindung ist nicht erforderlich. In nicht tarifgebundenen Unternehmen kann daher durchaus eine abweichende Betriebsvereinbarung erfolgen, soweit es sich – wie hier – um Gegenstände der zwingenden betrieblichen Mitbestimmung gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG handelt. Eine entgegenstehende tarifliche Regelung „besteht“ dann nicht. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG kommt nicht zur Anwendung („Vorrangtheorie“ des BAG und der herrschenden Lehre, vgl. Kania in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Auflage 2020, § 77 BetrVG Rn. 53).

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