Ende November 2020 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Richtlinie zur neuen europäischen Sammelklage (Verbandsklage) in Verbrauchersachen verabschiedet. Größte Neuerung dürfte die Möglichkeit sein, Zahlungsklagen (z.B. auf Schadensersatz) im Wege der Verbandsklage durchzusetzen. Kritiker befürchten daher das Heranwachsen einer neuen Klageindustrie.
Die Reaktionen auf die neue Richtlinie (EU) 2020/1828 (die „Richtlinie“) könnten kaum unterschiedlicher ausfallen. Zum Teil entsteht der der Eindruck, die Kommentatoren nähmen zu völlig unterschiedlichen Richtlinien Stellung. Vom „harmlosen Papiertiger“ bis zur „Büchse der Pandora“ ist alles vertreten.
Abseits dieser eher rechtspolitischen Auseinandersetzung lassen sich die Fakten zur neuen europäischen Sammelklage indes wie folgt zusammenfassen:
Um besser einschätzen zu können, was die neue Richtlinie tatsächlich an Veränderungen bringt, ist ein Blick in den bislang bestehenden Gesetzeskontext angezeigt:
Verbandsklagen sind auf europäischer Ebene bisher nur von der RL 2009/22/EG vorgesehen. Sie betrifft kollektive Unterlassungsklagen gegen die Verletzung bestimmter verbraucherschützender Vorschriften, wie z.B. des AGB-Rechts. Deutschland hat diese Richtlinie durch das Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) umgesetzt. Die Richtlinie zur neuen europäischen Verbandsklage ersetzt nun RL 2009/22/EG.
In Deutschland bestehen neben dem UKlaG derzeit noch zwei weitere Möglichkeiten zur kollektiven Rechtsdurchsetzung: Das Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) sowie das erst 2018 eingeführte Musterfeststellungsverfahren gemäß §§ 606 ff. ZPO. Alle drei Verfahren haben ganz unterschiedliche Voraussetzungen und Ziele:
Die neu geschaffene europäische Sammelklage muss nun in diesen „Flickenteppich“ der Verbandsklagen eingebunden werden. Es böte sich an, das bislang wenig strukturierte System durch ein homogenes Gewebe zu ersetzen.
Interessant ist dabei zunächst, dass die Richtlinie den EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich nur einen Mindeststandard vorgibt (sog. Mindestharmonisierung). Die Länder können im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie also auch wesentlich strengere nationale Vorschriften zum Schutze der Verbraucherinteressen vorsehen. Zum Teil wird daher befürchtet, dass dies zu einem Wettlauf der Mitgliedstaaten führt: Je strenger die Verbraucherschutzvorschriften, desto mehr Anreiz für Sammelklagen im jeweiligen Land und desto größer damit der Standortvorteil für die heimische Justiz.
Allerdings erscheint es höchst fraglich, ob ein solcher Wettlauf tatsächlich stattfinden wird. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass z.B. Fragen der Verfahrensdauer, der Verfahrenssprache und der sonstigen Besonderheiten des jeweiligen nationalen Justizsystems sowie dessen „tatsächliche Verbraucherfreundlichkeit“ eine mindestens ebenso hohe Bedeutung haben wie punktuell strengere Verfahrensvorschriften.
Problematisch ist die Mindestharmonisierung dennoch. Sie mag dem Verbraucherschutz dienen, nicht aber unbedingt der Verwirklichung des Binnenmarkts. Daher war der europäische Gesetzgeber auch zunehmend auf die Vollharmonisierung (d.h. Minimal- und Maximalstandards) umgestiegen, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen.
Anwendung finden soll das neue Verfahren nur bei Verbrauchersachen. Dafür enthält die Richtlinie einen sehr weiten Numerus Clausus von Verbraucherschutzvorschriften, deren Verletzung im Rahmen der neuen Sammelklage verfolgt werden kann. Zu den wichtigsten Verbraucherschutzvorschriften dürften dabei die Produkthaftungsrichtlinie (85/374/EWG), die Geldmarktfondsverordnung ((EU) 2017/1129), die Verbraucherschutzrichtlinie (2011/83/EU) sowie die Datenschutzgrundverordnung zählen.
Die neue Richtlinie ändert dabei nicht das jeweilige materielle Recht (Art. 2 Abs. 1 RL), sie soll vielmehr dessen Durchsetzung fördern (Art. 1 Abs. 1 RL). Selbiges gilt auch für das internationale Privat- und Prozessrecht (Art 2. Abs. 3 RL). Die Richtlinie führt also keinen neuen Gerichtsstand oder ein neues Konfliktrecht ein. Insoweit bleibt es insbesondere bei der Anwendung der Rom I und II- sowie der Brüssel Ia-Verordnungen. Wenngleich es hier in den Details sicherlich zu interessanten Rechtsfragen kommen wird, dürfte die praktische Anwendung der neuen Richtlinie diesbezüglich meist unspektakulär bleiben:
Zuständig sind insbesondere die Gerichte, an deren Ort das beklagte Unternehmen seinen Sitz hat (Art. 4 Abs. 1 Brüssel Ia) oder an dem die betroffenen Verbraucher ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort haben (Art. 18 Abs. 1 Brüssel Ia). In Bezug auf letzteres ist im Übrigen unerheblich, ob das beklagte Unternehmen überhaupt einen Sitz innerhalb der EU hat. In Einzelfällen mag es weitere besondere Gerichtsstände geben, die alternativ daneben bestehen können.
Inhaltlich dürfte in der Regel das materielle Recht desjenigen Staates anwendbar sein, das gemäß Rom I-Verordnung auf den jeweiligen Verbrauchervertrag Anwendung findet, bei Verstößen, die keinen Vertragsbezug haben, das Recht desjenigen Staates, in dem i.S.d. Rom II-Verordnung der Gesetzesverstoß vorliegt.
Dies kann dazu führen, dass in einer Verbandsklage vor demselben Gericht ggf. unterschiedliche Rechtsordnungen Anwendung finden werden. Es bleibt abzuwarten, wie in der Praxis damit umgegangen wird, um die Verfahren nicht zu verkomplizieren. Gerade im Schadensrecht bestehen zum Teil erhebliche Unterschiede zwischen den nationalen Gesetzen.
Wie eingangs erwähnt, stellt die Möglichkeit, Zahlungs- und andere Leistungsklagen kollektiv erheben zu können, eine ganz maßgebliche Neuerung der europäischen Sammelklage dar. Die Richtlinie unterscheidet damit zwei Hauptkategorien von Klagen:
Die Möglichkeit der Abhilfeklage sorgt indes für die Befürchtung, dass eine Klageindustrie entstehen könnte. Allerdings ist fraglich, worin genau der höhere Anreiz für eine potentielle Klageindustrie im Vergleich zur Musterfeststellungsklage mit nachgelagertem Individualverfahren bestehen soll. Es dürfte eher zu erwarten sein, dass diejenigen Player, die sich in Sachen „Kollektivklagen“ ohnehin bereits etabliert haben, ihr Geschäftsmodell auch weiterhin in mehr oder weniger unveränderter Form verfolgen werden. Tatsächlich fällt durch den Wegfall des nachgelagerten Individualverfahrens eine weitere Einnahmequelle für die vermeintliche Klageindustrie fort.
Das „Gespenst der Klageindustrie“ war – wenig überraschend – auch Gegenstand der gesetzgebungsbegleitenden Diskussionen. Gleich an mehreren Stellen der Erwägungsgründe geht der europäische Gesetzgeber darauf ein und versucht, der Gefahr Einhalt zu bieten. Das wohl wichtigste Instrument gegen Missbrauch sieht die EU dabei in der Beschränkung der Klagebefugnis auf die sog. „qualifizierten Einrichtungen“, die weder einem Erwerbszweck folgen noch in Abhängigkeit zu Dritten stehen dürfen.
Die Sammelklage soll also nur durch staatlich anerkannte und kontrollierte Verbraucherschutzverbände erhoben werden können. Dies soll ggf. missbräuchlich agierende Kläger und Klägervertreter vom Markt ausschließen. Tatsächlich erscheint es derzeit wenig wahrscheinlich, dass sich in einem derart streng regulierten Bereich die befürchtete Klageindustrie entwickeln können wird.
Dies umso mehr, als die Richtlinie als „Annexproblem" sogar die Prozessfinanzierung stärker reguliert (Art. 10 RL). Diese soll zwar grundsätzlich weiterhin in die Hoheit der Mitgliedstaaten fallen. Allerdings gibt die Richtlinie vor, dass im Falle der Zulässigkeit einer Prozessfinanzierung im jeweiligen Mitgliedstaat sichergestellt werden muss, dass das Kollektivinteresse der Verbraucher nicht durch das wirtschaftliche Interesse der Prozessfinanzierer überlagert wird.
Generell wird die Zukunft zeigen, ob nicht ohnehin „gebündelte Einzelklagen“ der lukrativere Weg für die befürchtete Klageindustrie sein wird. Fortschritte in Sachen legal tech sowie die weniger strenge Regulierung legen dies nahe.
Während die neue Richtlinie die Verbände also einerseits streng reguliert, will sie diese andererseits nicht handlungsunfähig machen. Diese Handlungsfähigkeit setzt insbesondere die Möglichkeit grenzüberschreitender Klagen voraus.
In einem Binnenmarkt, der von grenzüberschreitenden Sachverhalten geprägt ist, sollte dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Von einigen Seiten wird aber auch hier Missbrauch befürchtet, weil ein grenzüberschreitend tätiger Verband „forum shopping“ betreiben könnte, also das Verfahren vor dem ihm günstigsten Gericht führen könnte. Dies ist allerdings weniger Folge der neuen Sammelklage als vielmehr der Brüssel Ia-Verordnung. Dabei ist auch nicht erkennbar, weshalb Verbände unter der Brüssel Ia-Verordnung schlechter stehen sollten als individuelle Kläger.
Wie bereits angesprochen, kann der einzelne Verbraucher frei wählen, ob er seinen (Abhilfe-)Anspruch durch die Verbandsklage verfolgen lässt oder ob er individuell vorgeht. Hat er sich allerdings einmal dafür entschieden, sich durch den Verband „vertreten“ zu lassen, ist er daran gebunden und kann seinen Abhilfeanspruch nicht mehr individuell verfolgen (Art. 9 Abs. 4 RL). Ob und unter welchen Voraussetzungen der Verbraucher einer Verbandsklage beitritt, überlässt die Richtlinie der Regelung durch die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene. Möglich sind grundsätzlich zwei Optionen:
Abgesehen von der Möglichkeit, Leistungsklagen erheben zu können (Abhilfeverfahren), dürfte vor allem der in Art. 18 der Richtlinie niedergelegten Offenlegungspflicht des Unternehmers einige Bedeutung zukommen (Disclosure).
Die Pflicht des beklagten Unternehmers, nachteilige Beweise vorzulegen, die sich in seiner Obhut befinden, ist dem deutschen Prozessrecht weitgehend fremd. Anders als im anglo-amerikanischen Rechtsraum oder häufig in internationalen Schiedsverfahren, kennt das deutsche Recht – zumindest in der Praxis – keine Disclosure oder Document Production.
Zwar besteht mit § 142 ZPO für die Gerichte grundsätzlich die Möglichkeit, die Vorlage von Urkunden durch eine Partei zu verlangen. In der Praxis wenden die Gerichte § 142 BGB aber eher zurückhaltend an. Stattdessen wird häufig der Weg über die gesetzlich nicht geregelte, sog. „sekundäre Darlegungslast“ beschritten. Wie der Name aber bereits sagt, ändert diese allerdings nichts an der Beweislast und verpflichtet die Gegenpartei auch nicht zur Vorlage von Dokumenten.
Es darf daher angezweifelt werden, dass die Prinzipien der sekundären Darlegungslast den Vorgaben des Art. 18 der Richtlinie entsprechen. Auch die bloße Existenz des § 142 ZPO reicht für die Erfüllung der Richtlinie nicht aus, vielmehr müsste die Vorschrift auch tatsächlich im Sinne der Richtlinie angewendet werden (die nationalen Gerichte sind dabei genauso wie die nationalen Gesetzgeber an die Richtlinie gebunden, Art. 288 Abs. 3 AEUV).
Es ist daher damit zu rechnen, dass der deutsche Gesetzgeber hier eine Neuregelung speziell für die neue Verbandsklage schaffen wird, um kein europäisches Vertragsverletzungsverfahren zu riskieren.
Was ist also nun das Fazit zur neuen europäischen Sammelklage? Öffnet sie eher die „Büchse der Pandora“ oder ist sie ein harmloser „Papiertiger“?
Die (deutliche) Antwort findet sich in der Richtlinie selbst: Sie enthält klare Vorgaben, um nicht nur Papiertiger zu sein. Sie ist aber auch stark regulierend, um Missbrauch vorzubeugen. Ihre eigentliche Achillesferse ist die Mindestharmonisierung. Da die Richtlinie nur Mindeststandards festsetzt, bleibt nämlich abzuwarten, was die einzelnen Mitgliedstaaten in der nationalen Umsetzung tatsächlich daraus machen werden. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass der Umsetzungsakt häufig sehr fehleranfällig ist und Unsicherheiten mit sich bringt.
Im Folgenden werden die Eckpunkte der Klagearten nochmals zusammengefasst:
Klageart | Anwendungs- | Klage- | Klagebefugnis | Opt-in/Opt-out | Disclosure- |
KapMuG | Falsche oder irreführende Kapitalmarktinformation | Bloße Feststellung des Gesetzesverstoßes dem Grunde nach | Musterkläger | Opt-in durch Anmeldung im Register möglich | - |
UKlaG | Verstoß gegen Verbraucherrechte (z.B. in AGB) | Unterlassung des Gesetzesverstoßes | Qualifizierte Einrichtungen | weder noch; reine Verbandsklage. | - |
Musterfest- | Verbraucherrechte und -ansprüche gegen Unternehmer | Bloße Feststellung des Anspruchs/ Rechts dem Grunde nach | Qualifizierte Einrichtungen | Opt-in durch Anmeldung im Register möglich | - |
Neue | Verbraucherrechte und -ansprüche gegen Unternehmer | Unterlassung und Abhilfe (d.h. direkte Leistungsklage auf Zahlung, Schadensersatz, Nacherfüllung etc.) | Qualifizierte Einrichtungen | Entscheidung liegt bei Mitgliedstaaten; in Deutschland vsl. Opt-in-Lösung | Art. 18 Richtlinie Umsetzung in Deutschland offen. |