10.03.2016Fachbeitrag

Feinstaub-Alarm in Stuttgart: Drohen jetzt Fahrverbote und City-Maut?

Stuttgart nimmt seit Jahren einen traurigen Spitzenplatz unter den deutschen Großstädten ein, was die Immissionsbelastung in der Innenstadt angeht: Nirgendwo liegen die Werte für Feinstaub und Stickstoffdioxide (NO2) so hoch wie hier. Mit Inkrafttreten gemeinschaftsweit geltender Grenzwerte im Jahr 2005 (für Feinstaub) bzw. 2010 (für NO2) wurden die Mitgliedsstaaten gesetzlich verpflichtet, so genannte Luftreinhaltepläne aufzustellen, die Maßnahmen zur Immissionsreduzierung auflisten sollen, die dann wiederum von den Vollzugsbehörden vor Ort umzusetzen sind. Im Mitgliedsstaat Bundesrepublik Deutschland trifft diese Verpflichtung zur Planaufstellung die Bundesländer; konkrete Umsetzungsbehörde in Stuttgart ist die Stadt selbst. Seit 2005 vertritt der Unterzeichner das Land in diversen Klageverfahren vor den Verwaltungsgerichten, die die Aufstellung bzw. Fortschreibung solcher Luftreinhaltepläne zum Gegenstand haben. Damals hatte erstmalig ein Verwaltungsgericht entschieden, dass die Aufstellung solcher Pläne nicht nur eine objektive gesetzliche Verpflichtung der Behörden ist, sondern betroffene Bürger auch einen einklagbaren Anspruch hierauf haben. Später stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) klar, dass ein solches Klagerecht auch anerkannten Umweltschutzverbänden zusteht Feinstaub und NO2 können zu Erkrankungen der Atemwege und des Herz-Kreislauf-Systems führen.

Was bewirken Feinstaub und NO2? Wie entstehen sie?

Die Europäische Umweltagentur EEA geht davon aus, dass allein in Deutsch-land jährlich rund 70.000 Menschen vorzeitig sterben, weil sie zu hoher Luftverschmutzung ausgesetzt sind. Das entspricht der Einwohnerzahl einer Stadt wie Bayreuth oder Aalen.

Feinstaub entstand früher typischerweise im Abgas von Dieselfahrzeugen, doch hat die flächendeckende Einführung von Rußpartikelfiltern diese Emissionsquelle inzwischen weitest-gehend ausgemerzt: Ins Stuttgarter Stadtgebiet dürfen Diesel-Pkw seit 2012 nur noch dann einfahren, wenn sie über einen solchen Filter verfügen; nur dann erhalten sie die grüne Plakette für die sogenannte Umweltzone Stuttgart. Hauptverursacher der Feinstaubbelastung ist heute stattdessen die Aufwirbelung von bodennahen Partikeln durch den Kfz- Verkehr, ferner der Abrieb von Reifen und Bremsbelägen. NO2 dagegen ist ein klassisches Abgas von Dieselfahrzeugen. Beiden gemeinsam ist, dass die Immissionsbelastung umso geringer ausfällt, je flüssiger der Verkehr fließt: Stop-and-Go-Verkehr mit dem charakteristischen Abbremsen und Anfahren ist „Gift“ für die Luftqualität.

Die aktuelle Immissionssituation in Stuttgart

Seit erstmaliger Aufstellung des Luftreinhalteplans für das Stadtgebiet Stuttgart im Jahr 2005 konnten erhebliche Verbesserungen erzielt werden, was die Feinstaubbelastung in Stuttgart angeht: Dank der Einführung der Umweltzone, eines weiträumigen Lkw-Durchfahrtsverbots sowie ergänzender Maßnahmen u.a. der Verkehrsverflüssigung an Hauptverkehrsachsen wird die Obergrenze von 35 Kalendertagen im Jahr, an denen das Gesetz eine Überschreitung des sogenannten Tagesmittelwerts von 50 Mikrogramm pro m³ Luft gestattet, inzwischen nur noch an einer von fünf Messstellen stadtweit „gerissen“, und zwar am Neckartor (Kreuzung B14/Heilmannstr.). Dies ist mit einer DTV (durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke) von rund 80.000 Fahrzeugen am Tag der stärkst belastete Verkehrsknotenpunkt in Stuttgart und einer der stärkst belasteten in ganz Deutschland.

Kritischer ist nach wie vor die NO2-Situation: Hier wird der gesetzlich zulässige Jahresmittelwert von 40 Mikrogramm pro m³ Luft an vier von fünf Messstellen im Stadtgebiet überschritten. Absolut treten Jahresmittelwerte bis zu 89 Mikrogramm pro m³ Luft auf, also mehr als doppelt so hoch wie zulässig.

Die aktuellste Klage

Der renommierte Umweltschutzverband Deutsche Umwelthilfe e.V. stellt in seiner aktuellen Klage gegen das Land daher nun ganz konkrete Forderungen: Da Hauptverursacher der NO2-Belastung Diesel-Fahrzeuge seien, müsse für solche Fahrzeuge ein generelles Einfahrtsverbot in die Stuttgarter City verhängt werden. Alternativ müsse eine City-Maut eingeführt werden, die den Bürger auf ökonomischem Wege zum Umstieg auf Busse und Bahnen motiviere. Dies sind nur die prominentesten von vielen Forderungen.

All dies wirft eine Vielzahl grundlegender Rechtsfragen auf, die zum Teil bis ins Verfassungsrecht reichen und die Grundrechte der Betroffenen sowie das Rechtsstaats- und Verhältnismäßigkeitsprinzip berühren:

  • Kann man dem Bürger das Führen eines Fahrzeugs verbieten, selbst wenn dieses Fahrzeug die aktuell strengste Abgasnorm (derzeit Euro 6) einhält? Oder kann der Bürger darauf vertrauen, dass er mit dem Erwerb eines solchen Fahrzeugs einen Anspruch darauf erworben hat, vor Verkehrsbeschränkungen verschont zu bleiben?

  • Wie wirkt sich in diesem Zusammenhang rechtlich aus, dass die Abgaswerte im Realbetrieb bekanntermaßen ganz anders (nämlich in der Regel um ein Vielfaches höher) ausfallen als auf dem Prüfstand im Labor (also bei der Fahrzeugzulassung)? Und zwar ganz unabhängig davon, ob die Hersteller nun Manipulations-Software verbaut haben oder nicht. Kann es zu Lasten des Autokäufers gehen, dass die EU mit ihrem sogenannten NEFZ (Neuer Europäischer Fahrzyklus)-Testverfahren ein anerkannter-maßen praxisfernes Prüf- und Zulassungsprozedere geschaffen hat?

  • Wie wirkt es sich rechtlich aus, dass die fortlaufende Flottenerneuerung (also die sukzessive Ausmusterung alter Fahrzeuge mit schlechterer Ab-gastechnik und ihre Ersetzung durch Fahrzeuge mit neuer, saubererer Abgastechnik) langsamer voranschreitet als der Gesetzgeber es mit der fortlaufenden Verschärfung von einzuhaltenden Abgaswerten für die Fahrzeugzulassung unterstellt hat? Das Durchschnittsalter eines Pkw in Deutschland beträgt heute 9 Jahre (!); vor 9 Jahren galten für die Zulassung noch deutlich großzügigere Abgaswerte als heute: Die damalige Euro 4-Norm ließ für Stickoxide noch einen mehr als dreimal so hohen Wert zu wie die heutige Euro 6-Norm; beim Feinstaub ist es sogar fünfeinhalb mal so viel (jeweils Diesel-Pkw). D.h. die Hoffnung, allein eine fortlaufende Verschärfung von Abgasnormen werde über die Flottenerneuerung quasi automatisch zur Einhaltung der Immissionsgrenzwerte in den Städten führen, hat sich nicht erfüllt. Zu wessen Lasten soll diese Fehleinschätzung gehen?

  • Wenn nur noch Elektrofahrzeuge, Hybride oder wenigstens Euro 6-Fahrzeuge in die Innenstadt einfahren dürfen sollen: Woran soll man im Alltag erkennen, welche Antriebstechnik das Fahrzeug unter der Haube hat? Ohne eine geeignete Kennzeichnung der Fahrzeuge wird man ein solches Fahrverbot gar nicht vollziehen und kontrollieren können. Eine solche Kennzeichnung gibt es aktuell aber noch nicht: Die grüne Plakette, die zur Einfahrt in die Umweltzonen deutscher Städte berechtigt, erhalten nach dem Gesetz sogar Euro 3-Diesel, solange sie nur einen Partikelfilter haben; an Stickoxiden ließ die Abgasnorm Euro 3, die für Neuzulassungen ab 2001 galt, für Diesel-Pkw aber noch mehr als sechs Mal so viel zu wie die heutige Euro 6-Norm. Daher wird derzeit die Einführung einer zusätzlichen blauen Plakette diskutiert, die nur besonders saubere Fahrzeuge erhalten sollen (Euro 6- und E-Mobile). Zuständig für ihre Einführung ist aber der Bund und nicht das Land; wie also soll das Land – und dieses ist ja hier verklagt – Fahrverbote festsetzen, wenn der Bund nicht das nötige Instrumentarium zu ihrer Durchsetzung liefert?

  • Dasselbe Problem bei der City-Maut: Laut Gesetz ist es allein Sache des Bundes, eine Maut einzuführen. Das hat er getan, aber nur für Bundesstraßen, die zudem keine Ortsdurchfahrten sind (und zudem nur für Lkw: Sogenannte Lkw-Maut). Kann also ein Bundesland oder gar eine Stadt einfach eine Maut für die Straßenbenutzung erheben, oder entfaltet die vom Bund eingeführte Maut sozusagen Sperrwirkung?

    Und: Selbst wenn eine Stadt selbständig eine Maut einführen dürfte: Wie wäre diese zu bemessen? Soll sie den Bürger wirksam davon abhalten, mit dem eigenen Pkw die Innenstadt zu befahren, muss sie empfindlich hoch sein. Dann aber stellte sie sich als faktisches Verbot des Befahrens der Innenstadt dar. Über die rechtlichen Hürden für ein solches Verbot haben wir oben bereits gesprochen: Ganz so einfach ist die Sache mit dem Verbot nicht. Darf also eine Behörde einfach anstelle des ordnungsrechtlichen Instruments des Verbots das fiskalische Instrument der Abgabe (Maut) wählen, um die gesetzlichen Hürden für ein Verbot zu umgehen?

  • Stuttgart hat 230.000 Einpendler. Das sind in Relation zu seiner eigenen Einwohnerzahl (rd. 600.000) mehr Einpendler als jede andere deutsche Großstadt. Stuttgart hat damit mehr Einpendler als Städte wie Freiburg i.Br., Magdeburg oder Mainz Einwohner haben. Diese Einpendler müssen alle irgendwie in die Stadt gelangen (klassischer Berufsverkehr). Will man ihnen hierfür die Benutzung ihres eigenen Pkw verbieten, wird man ihnen eine Alternative bieten müssen; ansonsten liefe ein Fahrverbot ja auf ein absolutes Verbot hinaus, sich überhaupt an einen Ort im Stadtgebiet zu begeben. Wie wirkt es sich dann rechtlich aus, wenn der ÖPNV-Träger in Stuttgart (VVS Verkehrsverbund Stuttgart GmbH) anlässlich der erstmali-gen Ausrufung des Feinstaubalarms im Januar diesen Jahres die Bürger auf seiner eigenen Homepage selbst aufforderte, mangels Aufstockungs-möglichkeiten zur Rush Hour auf S-Bahnen vor 7 und nach 9 Uhr auszuweichen?

    In Städten wie München, Berlin oder Düsseldorf nutzen mehr Bürger den ÖPNV als in Stuttgart (gerechnet auf die Gesamt-Einwohnerzahl im Einzugsbereich des jeweiligen Nahverkehr-Verbunds); überall dort sind die Immissionswerte besser als in Stuttgart. Offenkundig tut also ein Ausbau des ÖPNV im Großraum Stuttgart Not. Die Frage ist nun: In welchem Um-fang kann das Land auf diesen Ausbau Einfluss nehmen, und zwar jetzt im Luftreinhalteplan (denn dieser ist ja Gegenstand der aktuellen verwaltungsgerichtlichen Klagen)? Für bauliche Maßnahmen wie das Anlegen neuer Haltestellen oder das Ziehen komplett neuer Trassen und Linien bedarf es rechtlich der vorherigen Durchführung komplexer Planungsverfahren; und diese sind ihrer Natur nach ergebnisoffen. Damit kann heute gar niemand vorhersehen, wie ein solches Planungsverfahren für eine neue Haltestelle oder eine völlig neue S-Bahn-Trasse in fünf oder zehn Jahren enden wird, ob also die Halstestelle oder die Trasse überhaupt jemals so realisiert werden kann, oder ob nicht beispielsweise gerade auf dieser Trasse geschützte Arten existieren und damit europäisches Naturschutzrecht dieser Trasse entgegenstünde (oder ungeeigneter Baugrund, oder geschütztes Grundwasser, oder Anwohner, die dann unzulässig ho-hem Bahnlärm ausgesetzt wären usw. usw.).

  • Und nicht zuletzt: Wie wirkt es sich rechtlich aus, dass die Stuttgarter Innenstadt eine ganz spezifische Besonderheit gegenüber allen anderen deutschen Großstädten hat, nämlich ihre Topographie? Die Stuttgarter Gemarkung weist eine Höhendifferenz von 342 m auf; die gesamte City liegt im sogenannten Talkessel. Naturgemäß sind das deutlich schlechtere Rahmenbedingungen für Luftaustausch als in „flachen“ Städten wie beispielsweise Berlin (88 m), München (100 m) Frankfurt a.M. (124 m) oder Düsseldorf (139 m). D.h. kritische Immissionen entstehen im Stuttgarter Talkessel viel leichter als in diesen anderen Innenstädten. Fahr-zeuge haben in Stuttgart deshalb auch erheblich mehr Steigungsstrecken zu bewältigen als in diesen anderen Städten, und gerade beim Bergauffahren steigt der Schadstoffausstoß naturgemäß besonders stark an. Kann man also all diese Städte über einen Kamm scheren, oder ist es nicht vielmehr ein Gebot der Verhältnismäßigkeit und damit der Rechts-staatlichkeit, Städten wie Stuttgart Ausnahmen oder wenigstens längere Fristen für die Einhaltung von Immissionsgrenzwerten zuzugestehen?

Ausblick

Die hier angesprochenen Fragen sind nur ein kleiner Ausschnitt aus den vielfältigen Rechtsproblemen, die die aktuellen Klageverfahren aufwerfen. Die Verfahren werden sich mit diesen grundlegenden Fragen beschäftigen müssen; sie werden damit Ausstrahlungswirkung weit über Stuttgart hinaus haben. Von der politischen Brisanz einer Forderung nach Fahrverboten in einem Auto-Land wie Deutschland und erst recht einer ausgemachten Auto-Stadt wie Stuttgart ganz zu schweigen: Stuttgart hat mit 560 Pkw je 1.000 Einwohner die höchste Pkw-Dichte aller deutschen Großstädte, beispiels-weise rund 2/3 mehr als Berlin, 1/2 mehr als Leipzig und 1/4 mehr als Frankfurt a.M.. Wir dürfen neugierig sein.

Als PDF herunterladen

Ansprechpartner

Sie benutzen aktuell einen veralteten und nicht mehr unterstützten Browser (Internet-Explorer). Um Ihnen die beste Benutzererfahrung zu gewährleisten und mögliche Probleme zu ersparen, empfehlen wir Ihnen einen moderneren Browser zu benutzen.