17.12.2015Fachbeitrag

Newsletter Health Care 4/2015

Produkthaftung bei einem nur potenziell fehlerhaften Medizinprodukt

EuGH, Urteil vom 5.3.2015, C-503/13; BGH, Urteil vom 9.6.2015 – VI ZR 284/12

Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied im Juli 2015, dass Medizinproduktehersteller für die Kosten einer Operation zum Austausch eines fehlerhaften implantierten Herzschrittmachers haften, wenn der Austausch erforderlich war, um den Fehler zu beseitigen.

Diese Entscheidung ist von großer Bedeutung, weil die Operation „nur“ wegen einer vom Hersteller des Herzschrittmachers mitgeteilten „potenziellen Fehlerhaftigkeit“ der betroffenen Produkte durchgeführt wurde. Ob das Medizinprodukt tatsächlich fehlerhaft war, blieb während des Verfahrens ungeklärt. Der BGH hatte also zu entscheiden, ob der bloße Verdacht eines Fehlers ausreicht, um Produkthaftungsansprüche gegen den Hersteller zu begründen.

Der Sachverhalt

Ein Patient hatte den Austausch auf eigenen Wunsch vornehmen lassen, weil er mögliche Fehlfunktionen oder sogar einen Ausfall des bei ihm implantierten Herzschrittmachers befürchtete. Der Verdacht war aufgekommen, nachdem der Hersteller bei Geräten aus derselben Produktionsserie festgestellt hatte, dass ein defektes Bauteil im Betrieb zu einer oder mehrerer von ihm benannter Fehlfunktionen führen könnte. Nach einer veröffentlichten Mitteilung sei mit einer erheblich höheren Ausfallwahrscheinlichkeit des Herzschrittmachers zu rechnen. Die ursprünglich angenommene Fehlerrate betrug 0,17 % bis 0,51 %, die sich nunmehr auf 0,31 % bis 0,88 % erhöht hatte. Wegen der unter Umständen für die Patienten lebensbedrohlichen Folgen empfahl der Hersteller selbst einen Austausch.

Im Anschluss an die Operation verlangte eine Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung Ersatz für die Kosten der Implantation des Austauschgeräts von der deutschen Vertriebsgesellschaft eines US-amerikanischen Herstellers von Herzschrittmachern, die den implantierten Herzschrittmacher zuvor in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) eingeführt hatte. Die Vertriebsgesellschaft weigerte sich jedoch, der Krankenkasse die Kosten der Operation zu erstatten. Es kam zum Rechtsstreit, der erst durch eine Einschaltung des Europäischen Gerichtshofs entschieden werden konnte.

Die rechtlichen Fragen


Ein Ersatzanspruch der Krankenkasse setzte nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass der ausgetauschte Herzschrittmacher als fehlerhaft bezeichnet werden konnte. Im Anschluss an die Operation war jedoch eine Feststellung darüber versäumt worden. Deshalb hatten die Gerichte die Frage zu klären, ob der Herzschrittmacher schon deshalb als fehlerhaft galt, weil die Fehlerquote bei der betreffenden Produktserie erheblich erhöht ist, also der konkrete Verdacht eines Fehlers des betreffenden Produkts besteht. Darüber hinaus war zu entscheiden, ob der Hersteller auch für die Kosten haftet, die durch die erneute Operation zum Austausch des Herzschrittmachers entstanden waren.

Nach § 3 Abs. 1 Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) hat ein Produkt einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise erwartet werden kann. Hierbei sind insbesondere seine Darbietung, der Gebrauch, mit dem der Hersteller billigerweise rechnen kann, und der Zeitpunkt, in dem es in den Verkehr gebracht wurde, zu berücksichtigen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG ist der Hersteller eines Produktes verpflichtet, dem Geschädigten den Schaden zu ersetzen, der daraus entstanden ist, dass durch Fehler eines Produkts jemand getötet, der Körper oder die Gesundheit des Geschädigten verletzt oder eine Sache beschädigt wird. Die deutsche Vertriebsgesellschaft galt hier als Hersteller im Sinne des § 4 Abs. 2 ProdHaftG, da sie die Herzschrittmacher in den EWR eingeführt hatte. Da das deutsche Produkthaftungsgesetz auf einer EG Richtlinie (85/374/EWG) basiert, war der BGH gehalten, den Rechtsstreit zunächst dem EuGH vorzulegen, um Fragen zur Auslegung der Produkthaftungsrichtlinie zu klären. Der EuGH urteilte im März 2015, woraufhin der BGH seine Entscheidung im Juni 2015 treffen konnte.

Die gerichtliche Entscheidung

Nach Auffassung des BGH können alle Produkte derselben Produktgruppe oder Produktserie als fehlerhaft eingestuft werden, wenn bei Geräten derselben Gruppe oder Serie ein nennenswert erhöhtes Ausfallrisiko festgestellt wurde. Dies soll selbst dann gelten, wenn bei dem konkreten Produkt nicht (mehr) festgestellt werden kann, ob es von dem Produktfehler tatsächlich betroffen ist. Zur Begründung wird angeführt, dass im zu entscheidenden Fall die Anforderungen an die Sicherheit des Produkts – eines Herzschrittmachers – sehr hoch seien. Die Folgen einer mangelnden Funktionstüchtigkeit könnten zu besonders schweren Folgen, insbesondere dem Tod des Patienten, führen. Wegen dieses besonders hohen Schadenspotenzials könne der Patient ein sehr hohes Maß an Sicherheit erwarten. Daher reiche der begründete Verdacht eines Fehlers aus, um einen Fehler im Sinne des Produkthaftungsgesetzes anzunehmen. In der Konsequenz müsse der Hersteller nach § 1 Abs. 1 ProdHaftG auch die Kosten für die Operation zum Austausch des Herzschrittmachers übernehmen, denn nur durch die erneute Operation sei  das erhöhte Ausfallrisiko tatsächlich ausgeschlossen worden. Es sei dem Patienten wegen der möglichen schweren Folgen nicht zumutbar gewesen, das Ausfallrisiko zu tragen.

Fazit

Da es sich bei Herzschrittmachern um besonders risikobehaftete Medizinprodukte handelt, welche unmittelbare Auswirkungen auf das Leben des Patienten haben, dürfte die Entscheidung des BGH nicht auf Medizinprodukte aller Klassen übertragbar sein. Bei anderen Medizinprodukten schlagen sich mögliche Fehler nicht in so fataler Weise nieder. Doch gilt allgemein: Je höher die „Gefährlichkeit“, also das Schadenspotenzial des Produkts ist, desto niedriger dürften die Anforderungen an die Annahme eines Fehlers bei dem konkreten Produkt sein. Hierfür ist nach der Entscheidung des BGH nicht in jedem Fall die zweifelsfreie Feststellung erforderlich, dass ein Produkt mangelhaft war. Vielmehr kann schon eine potenzielle Fehlerhaftigkeit ausreichen, wenn die möglichen Folgen einer Fehlfunktion besonders gravierend sind.

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