22.05.2015Fachbeitrag

Update Compliance 16/2015

EuGH-Urteil „Modelo Continente Hipermercados“ - Neues zum bußgeldrechtlichen Fluchtweg in die Umstrukturierung

Im deutschen Kartellrecht wird seit einiger Zeit die Frage diskutiert, ob und unter welchen Voraussetzungen eine juristische Person sich durch Umstrukturierung einem Bußgeld entziehen kann. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nun im Urteil vom 15. März 2015 entschieden, dass im Rahmen einer Verschmelzung die aufnehmende Gesellschaft grundsätzlich für Rechtsverstöße der aufgenommenen Gesellschaft haftet. Damit stellt er sich deutlich gegen die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH).

1. Im Vorlageverfahren „Modelo Continente Hipermercados“ ging es um die Frage, ob eine Gesellschaft gemäß Art. 19 Abs. 1 der Dritten Richtlinie 78/855/EWG des Rates vom 9.10.1978 („Richtlinie“) für Rechtsverstöße haftet, die eine andere auf sie verschmolzene Gesellschaft zuvor begangen hatte. Im konkreten Fall hatte eine portugiesische Behörde einem Unternehmen ein Bußgeld wegen Verstößen gegen Arbeitszeitregeln auferlegt. Diese hatte ein Unternehmen begangen, das danach von der bebußten Gesellschaft im Wege der Verschmelzung aufgenommen worden war.
 
Der EuGH entschied, dass das aufnehmende Unternehmen gemäß Art. 19 der Richtlinie das gesamte Aktiv- und Passivvermögen der übertragenden Gesellschaft übernimmt. Zum Passivvermögen gehört auch die Haftung für Bußgelder, die das verschmolzene Unternehmen den Behörden „schuldet“. Andernfalls, da die übertragende Gesellschaft nach Verschmelzung erlischt, würde auch die Haftung erlöschen. Auf diese Weise könnte die Gesellschaft durch geschickte Umstrukturierung einer Bebußung entgehen.

Der EuGH bestätigt damit, dass er die Haftung für einen Rechtsverstoß lediglich als Passivposten in der Unternehmensbilanz wertet, der auf den Rechtsnachfolger übergeht. Entsprechend dem europäischen einheitlichen Unternehmensbegriff ist damit eine Gesamtrechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung nach erfolgter Verschmelzung ohne weitere Voraussetzungen möglich.

2. Anders das deutsche Recht: Der BGH hatte zuletzt im Dezember 2014 gem. § 30 OWiG festgestellt, dass ein Unternehmensbußgeld nur auf Grundlage eines schuldhaften Handelns eines Gesellschaftsorgans verhängt werden darf. Eine Gesamtrechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung kann deshalb nur unter sehr engen Voraussetzungen erfolgen, nämlich wenn zwischen der früheren und der neuen Vermögensverbindung nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise „Nahezu-Identität“ besteht. Danach muss das haftende Vermögen vom übernehmenden Vermögen weiterhin getrennt bleiben, in gleicher oder ähnlicher Weise wie bislang eingesetzt werden und in der neuen juristischen Person einen wesentlichen Teil des Gesamtvermögens ausmachen. Diese Rechtsprechung führte bislang dazu, dass ein Unternehmen sich durch (gruppeninterne oder -externe) Umstrukturierung einem Bußgeld entziehen konnte (siehe dazu Update Compliance Nr. 11/2015).

Mit der 8. GWB-Novelle 2013 hat der Gesetzgeber diese Lücke durch § 30 Abs. 2a OWiG zwar verengt (für nach dem Jahr 2013 begangene Rechtsverstöße), ungeachtet der zu Recht geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken. Dennoch sind weiterhin Konstellationen denkbar, in denen ein Unternehmen durch Vermögensverlagerungen einer Bußgeldhaftung entgeht, z.B. durch Ausgliederungen oder Einzelrechtsübertragungen.

Praxishinweis: Mit dem deutschen straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Schuldprinzip ist die Rechtsprechung des EuGH in „Modelo Continente Hipermercados“ unvereinbar. Das Urteil offenbart erneut die rechtsstaatlichen Defizite des europäischen Rechts, die eine Bußgeldhaftung losgelöst von persönlicher Schuld und Strafe ermöglichen. Es dürfte nach unserer Auffassung auch nicht Ratio der Verschmelzungs-Richtlinie gewesen, bußgeldrelevante Sachverhalte zu erfassen und zu regeln.

Im deutschen Recht dürfte das Urteil zunächst keine weiteren Auswirkungen haben. Für Altfälle hat der BGH klargestellt, dass eine europafreundliche Auslegung des § 30 OWiG contra legem nicht zulässig ist. Es bleibt deshalb bei dem Erfordernis der Nahezu-Identität. Für „Neufälle“ hat sich aber der deutsche Gesetzgeber schon zuvor mit § 30 Abs. 2a OWiG dem europäischen Bußgeldrecht in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise angenähert. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber das Urteil des EuGH nicht zum Anlass nimmt, das Schuldprinzip im Unternehmensbereich gänzlich über Bord zu werfen.

Unternehmen mit Kartell- bzw. sonstigen Rechtsverstößen vor dem Jahr 2013 sollten deshalb weiterhin auf Grundlage der genannten BGH Rechtsprechung ihre Gestaltungsmöglichkeiten prüfen. Bei Verstößen nach 2013 verbleiben bestimmte Maßnahmen der Abspaltung oder Einzelrechtsnachfolge, die von § 30 Abs. 2a OWiG wohl auch weiterhin nicht erfasst werden.

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