EuG kippt Verlängerung des regulatorischen Vermarktungsschutzes für Tecfidera
Update Health Care & Life Sciences 8/2025
Die Saga um den seit Jahren umstrittenen Vermarktungsschutz für Biogens Multiple-Sklerose-Arzneimittel Tecfidera (Dimethylfumarat) ist um ein Kapitel reicher. Mit Urteil vom 24. September 2025, T-256/23 – Mylan/Kommission hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) den Beschluss der Kommission vom 2. Mai 2023 zur einjährigen Verlängerung des Vermarktungsschutzes für Tecfidera auf Antrag von Mylan für nichtig erklärt und auch den Nichtigkeitsklagen von sieben weiteren Generikaherstellern in den jeweiligen Parallelverfahren stattgegeben.
Der Fall steht dabei im Spannungsfeld zwischen Anreizen für indikationsbezogene Forschung und dem zeitgerechten Marktzugang von Generika. Der notwendige Interessenausgleich zwischen Originalhersteller und Generikaherstellern erfolgt aktuell durch die sog. 8+2+1-Regelung: Mit Zulassung unterliegen die Studiendaten des Originalpräparats zunächst einem achtjährigen Unterlagenschutz, an den sich sodann ein zweijähriger Vermarktungsschutz anschließt, der um ein weiteres Jahr verlängert wird, wenn der Zulassungsinhaber
„innerhalb der ersten acht Jahre dieser zehn Jahre die Genehmigung eines oder mehrerer neuer Anwendungsgebiete erwirkt, die bei der wissenschaftlichen Bewertung vor ihrer Genehmigung als von bedeutendem klinischen Nutzen im Vergleich zu den bestehenden Therapien betrachtet werden". (Siehe Art. 14 Abs. 11 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 bzw. Art. 10 Abs. 1 UAbs. 4 der Richtlinie 2001/83/EG.)
Für Tecfidera lief die maßgebliche Achtjahresfrist, ausgehend von der Erstzulassung am 30. Januar 20214 bzw. deren Zustellung am 3. Februar 2014, am 2. Februar 2022 ab. Die Genehmigung der neuen pädiatrischen Indikation durch die Kommission erfolgte allerdings erst am 13. Mai 2022 und damit über drei Monate zu spät. Das EuG entschied nun, dass es angesichts der Indikationserweiterung außerhalb der Achtjahresfrist an den tatbestandlichen Voraussetzungen für den Beschluss der Kommission vom 2. Mai 2023 fehlte und die einjährige Verlängerung des Vermarktungsschutzes für Tecfidera daher rechtswidrig war.
I. Strikte Achtjahresfrist für die Indikationserweiterung
Mit Blick auf Art. 14 Abs. 11 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 stellt das EuG zunächst fest, dass die Erteilung einer Genehmigung für ein neues Anwendungsgebiet während der ersten acht Jahre tatbestandliche Voraussetzung für eine Verlängerung des Vermarktungsschutzes ist. Diese Achtjahresfrist sei angesichts des klaren Wortlauts und des bezweckten Interessenausgleichs strikt auszulegen und sehe keine Ausnahmen vor. Die Kommission hatte geltend gemacht, dass die besondere Prozesslage – insbesondere das Zwischenstadium nach dem Urteil des EuG vom 5. Mai 2021, T-611/18 im Parallelverfahren Polpharma/EMA, das im Rahmen einer Inzidentfeststellung nach Art. 277 AEUV einen Vermarktungsschutz von Tecfidera insgesamt abgelehnt hatte, und vor dem späteren Aufhebungsurteil des EuGH vom 16. März 2023, C-438/21 P bis C-440/21 P – Polpharma/EMA – eine flexiblere Handhabung des Achtjahreszeitraums und eine „angemessene Frist“ nach dem EuGH Urteil erfordere. Das EuG hält dem jedoch entgegen, dass der Zeitraum bis zum Erlass des angefochtenen Beschlusses zur Verlängerung des Vermarktungsschutzes für Tecfidera gar nicht im Streit stehe. Vielmehr gehe es um die Frage, ob der Verlängerungsbeschluss rechtmäßig ergehen konnte, obwohl die Indikationserweiterung nicht innerhalb der ersten acht Jahre erwirkt worden war. Dem erteilt das EuG aber eine doppelte Absage: Zum einen erlaubten weder zwischenzeitliche Rechtsunsicherheiten noch die Durchführung gerichtlicher Entscheidungen eine Abweichung von der klaren, fristengebundenen Systematik des Art. 14 Abs. 11 Verordnung (EG) Nr. 726/2004. Zum anderen habe Biogen das Antragsverfahren schneller initiieren und die Kommission vor Fristablauf entscheiden können. Weder das EuG Urteil vom 5. Mai 2021 noch dessen Aufhebung am 16. März 2023 hätten die Beantragung und Genehmigung der neuen pädiatrischen Indikation vor dem 2. Februar 2022 blockiert.
II. Keine Umgehung durch Art. 266 AEUV
Zudem führt das EuG aus, dass auch Art. 266 AEUV keine Umgehung der Achtjahresfrist rechtfertigt. Zwar ergebe sich aus Art. 266 AEUV eine Verpflichtung der Kommission, die Wirkungen festgestellter Rechtsverstöße zu beseitigen und den rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen. Die Kommission habe daher Biogen nach dem späteren, mit ex tunc-Wirkung versehenen Aufhebungsurteil des EuGH vom 16. März 2023 wieder in den Stand einsetzen müssen, in dem sich Biogen als Zulassungsinhaber für das Inverkehrbringen von Tecfidera vor dem Urteil des EuG vom 5. Mai 2021 befand. Zugleich macht das EuG aber deutlich, dass Art. 266 AEUV keine Quelle neuer Befugnisse ist und die Kommission nicht dazu berechtigt, materiell rechtliche Tatbestandsvoraussetzungen oder Fristen des Sekundärrechts zu modifizieren. Die Durchführung eines Urteils müsse vielmehr „im Einklang mit dem geltenden Unionsrecht“ erfolgen. Aus diesem Grund durfte die Kommission den in Art. 14 Abs. 11 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 normierten Fristenmechanismus nicht umgehen, indem sie eine einjährige Verlängerung des Vermarktungsschutzes gewährte, obwohl die Genehmigung der neuen Indikation nicht innerhalb der ersten acht Jahre erwirkt worden war.
III. Keine Befassung mit den weiteren Klagegründen
Mit Blick auf die Verletzung der Achtjahresfrist in Art. 14 Abs. 11 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 und das damit verbundene Durchgreifen des ersten Klagegrundes erklärt das EuG schließlich eine Auseinandersetzung mit den übrigen acht vorgebrachten Klagegründen für entbehrlich. So verhält sich das EuG nicht zu den fundamentalen Streitfragen des Ausgangsfalls, etwa ob Biogen überhaupt jemals Vermarktungsschutz für Tecfidera zustand und ob die generischen Zulassungen rechtmäßig erteilt wurden.
IV. Fazit und Ausblick
Der Entscheidung des EuG kommt allgemeine Bedeutung über den konkreten Fall hinaus zu. So schafft die Entscheidung klare Leitplanken zur Anwendung der Achtjahresfrist im Rahmen von Art. 14 Abs. 11 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004, innerhalb derer die neue Indikation genehmigt werden muss. Zudem erteilt das EuG der von der Kommission über Art. 266 AEUV angestrebten Umgehung der Achtjahresfrist eine Absage. Institutionen können sich damit bei der Vollstreckung von Urteilen nicht auf Art. 266 AEUV berufen, um strenge rechtliche Voraussetzungen zu relativieren. Rechts- und Planungssicherheit – hier zugunsten des Generikawettbewerbs – genießen Vorrang vor exekutiven Korrekturlösungen. Für Zulassungsinhaber folgt daraus, dass die Entwicklung und Zulassung neuer Indikationen im Rahmen von Second Medical Use-Projekten fristgerecht geplant und zum Abschluss gebracht werden müssen. Zugleich bedeutet die Entscheidung Vorhersehbarkeit der regulatorischen Schutzdauer und damit Rechtssicherheit. Ferner dürfte der strikte Maßstab zur Auslegung von Fristenregelungen auch nach der aktuell diskutierten Reform der EU-Arzneimittelregulierung Geltung beanspruchen (vgl. COM(2023) 192 sowie COM(2023) 193, dort allerdings im Hinblick auf den von der Kommission vorgesehenen sechsjährigen Unterlagenschutz).
Zur Lösung des überaus komplexen Ausgangsfalls trägt die bislang im Übrigen nicht rechtskräftige Entscheidung hingegen nur teilweise bei. So verpasst es das EuG, sich mit der eigentlichen Gretchenfrage des Konflikts auseinanderzusetzen, nämlich ob Tecfidera überhaupt rechtmäßig Vermarktungsschutz beanspruchen konnte. Zudem hat das EuG zwar die einjährige Verlängerung des Vermarktungsschutzes für Tecfidera aufgehoben – das zusätzliche Jahr Exklusivität war aber bereits mit dem 3. Februar 2025 abgelaufen. Für die Generikahersteller dürfte damit nun schwerpunktmäßig die Prüfung von rückwirkenden Schadensersatzansprüchen in den Fokus rücken, abhängig vom jeweiligen Markteintritt. Wichtige Erkenntnisse versprechen hier die noch ausstehenden Entscheidungen des EuG über die Nichtigkeitsklagen verschiedener Generikahersteller gegen die Beschlüsse der Kommission vom 13. Dezember 2023, mit denen die Kommission ihre generischen Zulassungen widerrufen hat.