27.09.2023Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht September 2023

Keine Erschütterung des Beweiswerts einer AU bei 10-stündiger Bahnfahrt – eine Lektion für Arbeitgeber

LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13. Juli 2023 – 5 Sa 1/23

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist, betrifft. Zudem lässt auch eine zu Beginn der Erkrankung rund zehnstündige Bahnfahrt des Arbeitnehmers zum Heimatwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, die attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen. Dies gilt jedenfalls solange nicht weitere verdächtige Umstände hinzutreten.

Sachverhalt

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall stritten die Parteien über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere über den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Der Kläger war bei der Beklagten als Chefarzt für die orthopädische Abteilung seit dem 1. Januar 2020 angestellt. Er unterhielt während der Zeit eine Zweitwohnung in der Nähe seiner Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befand sich ca. 1.000 km entfernt in Süddeutschland.

Am 16. August 2021 kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis unter Beachtung der arbeitsvertraglichen Kündigungsfrist zum 28. Februar 2022. Zwischen dem Ausspruch seiner Kündigung und dem 2. Februar 2022 war der Chefarzt an insgesamt 48 Kalendertagen arbeitsunfähig. Am 9. Februar 2022 meldete er sich krank und fuhr mit der Bahn rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz. Am 10. Februar 2022 stellte ihm seine behandelnde Hausärztin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 9. Februar 2022 bis 21. Februar 2022 aus. Am 22. Februar 2022 trat der Kläger seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub an und nahm zum 1. März 2022 in einer anderen Reha-Klinik eine neue Beschäftigung als Oberarzt auf.

Die Beklagte hat die Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom 9. Februar 2020 bis 21. Februar 2022 angezweifelt und seinen Lohn einbehalten. Sie war der Ansicht, wenn der Kläger arbeitsunfähig krank gewesen wäre, hätte er nicht zehn Stunden Bahn fahren können. Außerdem sei das pünktliche Ende der Erkrankung zum Beginn des Urlaubs auffällig.

Entscheidung

Bereits das Arbeitsgericht hat die Klage auf Zahlung eines weiteren Bruttobetrags – i.H.v. 5.625 € aus §§ 3 Abs. 1 S. 1, 4 Abs. 1 EFZG – stattgegeben. Das LAG hat auch die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Eine Bahnfahrt sei, auch wenn sie zehn Stunden dauert, nicht gleichzusetzen mit einem Arbeitstag als Chefarzt. Schließlich sei die körperliche Belastung bei einer derart langen Bahnfahrt in der ersten Klasse bei weitem nicht so hoch wie in der Klinik. Bei der Arbeit müsse sich der Arzt körperlich anstrengen und darüber hinaus hoch konzentriert sein. Anders sähe das hingegen bei der Bahnfahrt aus. Hier habe der Arzt eine entspannte Sitzposition einnehmen können, sich bei Bedarf jedoch auch bewegen können.

Zudem können Krankheiten auch in einem gekündigten oder einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. Dass die Ablösungsphase durch eine Krankschreibung überbrückt wird, könne laut dem LAG nicht automatisch darauf schließen lassen, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung makelbehaftet sei. Dafür müssten weitere Umstände aufgezeigt werden, die an der Bescheinigung zweifeln ließen. Solche Umstände habe die Beklagte in diesem Fall aber nicht genügend vorgetragen.

Praxishinweis

Die Entscheidung steht – so auffällig die Arbeitsunfähigkeitszeiten des Arbeitnehmers im betreffenden Fall auch waren – im Ergebnis und der Begründung in Einklang mit der gängigen Rechtsprechung. Das LAG unterstreicht in Anschluss an die ständige Rechtsprechung des BAG den besonderen hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als gesetzlich vorgesehenen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit.

Die Entscheidung illustriert aber vor allem, welche Hürden Arbeitgeber nehmen müssen, um diesen Beweiswert zu erschüttern und ist deshalb besonders lehrreich. Bloße Anhaltspunkte, dass die Motivation eines Arbeitnehmers in der Endphase des Arbeitsverhältnisses abnimmt lassen nicht den Schluss zu, dass jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Zeitraum möglicherweise erschlichen worden ist. Stellt der Arbeitgeber die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit ernsthaft in Frage und will er die Bescheinigung erschüttern, muss er konkrete objektive Umstände des Einzelfalls darlegen, die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen. Diese Grundsätze gelten ebenso für die inzwischen geläufige elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch Meldung an die Krankenkassen.

Arbeitgeber sollten sich sensibilisieren, in welchen Fällen eine Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Betracht kommt, wie insbesondere in folgenden Fallgruppen:

  • Der Arbeitnehmer leistet während der Arbeitsunfähigkeit besondere körperliche Anstrengungen.
  • Der Arbeitnehmer geht einer Nebentätigkeit während der Arbeitsunfähigkeit nach.
  • Der Arbeitnehmer kündigt die Arbeitsunfähigkeit an, z.B. nachdem ein Urlaubsantrag versagt wurde.
  • Der Arbeitnehmer ist passgenau die gesamte Kündigungsfrist krank.
  • Der Arbeitnehmer ist gehäuft vor und nach freien Tagen, etwa am Montag und Freitag, an Brückentagen und vor oder nach dem Urlaub krank.

In solchen Fällen sollte stets anwaltlicher Rat eingeholt werden. Hierbei ist Eile geboten: Neben dem Zurückhalten der Entgeltfortzahlung kommen in diesen Fällen regelmäßig disziplinarische Maßnahmen – wie insbesondere auch die außerordentliche Kündigung! – in Betracht, für deren Ausspruch kurze Fristen gelten.

 

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