28.11.2019Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht November 2019

Schwerbehindertenvertretung muss bei Massenentlassungsanzeige konsultiert werden

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 – 21 Sa 2100/18

Im Rahmen des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG soll nach Auffassung des LAG Berlin-Brandenburg jede Arbeitnehmervertretung zu beteiligen sein; wird demnach die Schwerbehindertenvertretung nicht gesondert beteiligt, sind die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam. 

Sachverhalt

Im Zusammenhang mit der Air Berlin-Insolvenz mussten die Insolvenzverwalter sämtlichen Angestellten von Air Berlin kündigen. Dementsprechend war nicht nur die Massenentlassungsanzeige, sondern auch das Konsultationsverfahren gemäß § 17 KSchG erforderlich. 

Aufgrund von Tarifverträgen bestanden bei Air Berlin verschiedene Betriebsratsgremien für unterschiedliche Mitarbeitergruppen, namentlich eine Personalvertretung „Cockpit“ für die Piloten und eine Personalvertretung „Kabine“ für Purser und Flugbegleiter. Überdies war auch eine Schwerbehindertenvertretung für die „Kabine“ eingerichtet.

Während mit dem Betriebsrat „Boden“ ein Interessenausgleich recht schnell vereinbart werden konnte, zeigte sich die Personalvertretung Kabine etwas unnachgiebig. Sie beantragte im Wege der einstweiligen Verfügung eine Reihe von Auskünften und Unterlagen; vor Gericht verpflichtete sich die Air Berlin dazu, betriebsbedingte Kündigungen, auch nach § 122 InsO, erst nach Schaffung der „betriebsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen“ auszusprechen. Auch mit der Personalvertretung Cockpit gelang der Abschluss eines Interessenausgleiches. Infolgedessen kündigte Air Berlin die Arbeitsverhältnisse des gesamten Cockpit- sowie des gesamten Bodenpersonals. Nachdem die Einigungsstelle (nach gerichtlichem Einsetzungsverfahren) sodann für den Bereich Kabine das Scheitern der Verhandlungen erklärt hatte, erstattete Air Berlin Massenentlassungsanzeige bezogen auf das Kabinenpersonal und kündigte nach Anhörung der Personalvertretung Kabine und Schwerbehindertenvertretung Kabine. Gegen diese Kündigung wendete sich nun ein schwerbehinderter Kläger. 

Entscheidung

In zweiter Instanz gab das LAG Berlin-Brandenburg dem Kündigungsschutzantrag des Klägers Recht. Nach seiner Auffassung war die Kündigung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG unwirksam. Zum einen sei im Rahmen des Konsultationsverfahrens die Schwerbehindertenvertretung Bord nicht konsultiert worden und zum anderen sei vor Abschluss des Konsultationsverfahrens mit der Personalvertretung Kabine – durch Kündigung der Piloten und des Bodenpersonals – die unternehmerische Entscheidung bereits umgesetzt worden. 

Das LAG Berlin-Brandenburg erkennt zwar an, dass in § 17 Abs. 2 KSchG lediglich „dem Betriebsrat“ Auskünfte und Unterlagen zu erteilen seien; durch europarechtskonforme Auslegung (Art. 1 Abs. 1 b der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG) sei aber jede Arbeitnehmervertretung nach nationalem Recht gemeint. Es verweist insoweit darauf, dass – so wohl die vorherrschende Ansicht im Schrifttum – bei Massenentlassungsvorhaben neben dem Betriebsrat auch der Sprecherausschuss zu beteiligen sei, sofern denn ein solcher Sprecherausschuss bestehe. Schließlich vertrete der Sprecherausschuss die leitenden Angestellten, die der Vertretungsmacht des Betriebsrates entzogen seien.

Nach diesem Verständnis seien hier die verschiedenen, durch tarifvertragliche Regelungen begründeten Arbeitnehmervertretungen (Personalvertretung Cockpit, Personalvertretung Kabine und Betriebsrat Bodenpersonal) zu beteiligen gewesen. Überdies sei aber auch die Schwerbehindertenvertretung Bord zu beteiligen gewesen. Zwar würden dadurch Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte Menschen „doppelt“ vertreten; dies sei aber dem gesetzlichen Zweck geschuldet, die Interessen der Schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen besonders zu schützen und zu fördern. Entsprechend der Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie 2000/78/EG sei dies auch europarechtlich gefordert; folgerichtig hätte die Schwerbehindertenvertretung gesondert im Sinne des § 17 Abs. 2 KSchG konsultiert werden müssen.

Überdies problematisiert das LAG Berlin-Brandenburg die Frage, ob es überhaupt zulässig sei, einen einheitlichen kündigungsrechtlichen Betrieb (Flugbetrieb der Air Berlin) im Hinblick auf das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG in mehrere betriebsverfassungsrechtliche Betriebe (hier: PV Cockpit, PV Bord und BR Boden) aufzuteilen. Jedenfalls aber sei das Konsultationsverfahren nicht eingehalten, wenn auf Basis einer Teileinigung (hier: für den Bereich Cockpit und den Bereich Boden) bereits Fakten geschaffen würden, während die Konsultation eines der Gremien (PV Kabine) noch nicht abgeschlossen sei. Auch deshalb sei die Kündigung unwirksam. 

Schließlich sei die Kündigung auch unwirksam, da die Massenentlassungsanzeigen, die Air Berlin in Bezug auf das Cockpit- und Bodenpersonal getätigt habe, unwirksam seien. Diese hätten nämlich erst entweder nach abschließender Stellungnahme auch der Personalvertretung Kabine getätigt werden können; jedenfalls aber hätte in den entsprechenden Massenentlassungsanzeigen der Stand des Konsultationsverfahrens mit der Personalvertretung Kabine (obschon das Kabinenpersonal noch nicht von Kündigungen bedroht war) dargestellt werden müssen. Kündigungsrechtlich sei nämlich von einem einheitlichen Betriebsbegriff im Sinne des § 17 KSchG auszugehen.

Fazit

Das LAG Berlin-Brandenburg wirft ein Schlaglicht auf ein latentes Problem im deutschen Kündigungsrecht. Der kündigungsschutzrechtliche Betriebsbegriff ist nämlich nicht identisch mit dem Betriebsbegriff des BetrVG. Dies gilt umso mehr für tarifvertraglich gewillkürte Betriebe; diese gelten nämlich gemäß § 3 Abs. 5 BetrVG „nur“ als Betriebe im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes. Eine Fiktionswirkung auch für das Kündigungsschutzgesetz sieht das BetrVG ausdrücklich nicht vor. Folgerichtig kommt es zu einem Auseinanderfallen beider Betriebsbegriffe und damit zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten und rechtlichen Risiken bei Reorganisationen.

Das LAG Berlin-Brandenburg verschärft die Anforderungen an die arbeitgeberseitigen Konsultationsbemühungen im Rahmen eines Massenentlassungsverfahrens noch dadurch, dass es die Beteiligung sämtlicher Arbeitnehmervertretungen im Konsultationsprozess fordert und das Konsultationsverfahren erst dann als abgeschlossen ansieht, wenn die Konsultation sämtlicher beteiligter Gremien beendet ist. 

Die Insolvenz von Air Berlin beschäftigt neben den Berliner Gerichten noch viele weitere bundesdeutsche Gerichte, namentlich auch das LAG Düsseldorf. Das LAG Düsseldorf hat, soweit ersichtlich, in seinen Entscheidungen zu den Massenkündigungen bei Air Berlin die vom LAG Berlin-Brandenburg aufgeworfenen Rechtsfragen entweder gar nicht behandelt oder aber konträr bewertet. Es kann daher mit Spannung erwartet werden, wann das Bundesarbeitsgericht erstmals die Gelegenheit hat, zu diesen Fragestellungen Position zu beziehen. Die Praxis wird bis dahin – dem Vorsorgeprinzip geschuldet – bei Massenentlassungsverfahren zunächst sämtliche Gremien zu beteiligen und förmlich zu konsultieren haben.

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