29.06.2022Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht Juni 2022

BAG: Massenentlassung – keine Nichtigkeit einer Kündigung allein wegen fehlender Soll-Angaben

BAG, Urteil vom 19.05.2022 – 2 AZR 467/21 (Pressemitteilung 18/22)

Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ist nicht alleine deswegen nichtig, weil der Arbeitgeber bei der notwendigen Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit sog. „Soll-Angaben“ nicht gemacht hat.

Wenn ein Arbeitgeber in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmern innerhalb eines Zeitraums von 30 Kalendertagen Entlassungen (durch Ausspruch von Kündigungen und/oder Unterzeichnung von ihm veranlasster Aufhebungsverträge) in einem Umfang initiiert, der die in § 17 Abs. 1 KSchG normierten Schwellenwerte übersteigt, hat er vor Ausspruch der (ersten) Kündigung eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu erstatten. Unterlässt er dies, wird ein Arbeitsgericht schon aus diesem Grund eine im Rahmen der Massenentlassung erklärte Kündigung für unwirksam erklären. Das BAG hatte sich nun mit der Frage zu befassen, welche Folgen es hat, wenn der Arbeitgeber zwar die Massenentlassung rechtzeitig anzeigt, dabei aber gegenüber der Agentur nicht die sog. „Soll-Angaben“ macht.

Sachverhalt

Ein Arbeitgeber, der regelmäßig 21 Mitarbeiter an einem Standort und weitere Mitarbeiter an anderen Standorten beschäftigte, kündigte innerhalb eines Zeitraums von 30 Kalendertagen 17 Arbeitsverhältnisse. Eine der betroffenen Arbeitnehmerinnen erhob eine Kündigungsschutzklage und berief sich zur Begründung unter anderem darauf, die ihr gegenüber erklärte Kündigung sei mangels ordnungsgemäßer Massenentlassungsanzeige nichtig. 

Unstreitig hatte der Arbeitgeber noch vor Ausspruch der Kündigung eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht. Die in dem behördlichen Anzeigeformular vorgesehene Anlage zu Feld 34 mit näheren individuellen Angaben zu den zu entlassenden Arbeitnehmern (u.a. Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit) reichte der Arbeitgeber hingegen erst deutlich später, über einen Monat nach Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung, nach.

Das Arbeitsgericht Frankfurt a.M. und das LAG Hessen (Urt. v. 25.6.2021 – 14 Sa 1225/209) entschieden zugunsten der Klägerin. Es sei geboten, die Vorschriften der §§ 17, 18 KSchG europarechtskonform auszulegen, da sie der Umsetzung der europäischen „Massenentlassungsrichtlinie“ dienen (Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998, geändert durch die Richtlinie (EU) 2015/1794 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2015 – „MERL“). Die MERL sieht eine Unterscheidung zwischen sog. „Muss-Angaben“ und sog. „Soll-Angaben“, wie sie das KSchG in den Vorschriften des § 17 Abs. 3 Satz 1. und Satz 4 gegenüber Abs. 3 Satz 5 KSchG ausdrücklich vornimmt, nicht vor. Die MERL verlange, so die Richter, die Mitteilung „aller zweckdienlichen Angaben“. Dazu gehörten auch die „Soll-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG zu den zu entlassenden Arbeitnehmern, da sie jedenfalls zweckdienlich seien. 

Da diese Soll-Angaben im vorliegenden Fall zum relevanten Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung gegenüber der Agentur für Arbeit noch nicht gemacht worden waren, erachteten die Instanzgerichte die Kündigung für unwirksam.

Entscheidung des BAG

Dem ist das BAG entgegengetreten. Es hat das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LAG Hessen zurückverwiesen. Die vollständige Begründung des Urteils ist noch nicht veröffentlicht.

In seiner Pressemitteilung (PM 18/22) hat das BAG jedoch schon ausdrücklich klargestellt, dass die streitbefangene Kündigung nicht nach § 134 BGB nichtig war, weil die Beklagte nicht zuvor gegenüber der Agentur für Arbeit die Angaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG gemacht hatte. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift führe nach dem eindeutigen Willen des (deutschen) Gesetzgebers nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige. Über diese gesetzgeberische Entscheidung dürften sich die nationalen Gerichte nicht im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung hinwegsetzen. Eine solche Auslegung sei auch nicht geboten. Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sei geklärt, dass die sog. „Soll-Angaben“ nach § 17 KSchG nicht in der Anzeige enthalten sein müssten. Nähere Details zur Begründung dieser Auffassung wird man demnächst den Entscheidungsgründen entnehmen können. 

Hinweise

Für den Arbeitgeber, der eine Massenentlassung umsetzen muss, erweisen sich die Vorschriften der §§ 17, 18 KSchG – gerade auch wegen der europarechtlichen Prägung – als „Dickicht“ mit vielen Fallstricken. Insoweit ist es zu begrüßen, dass jedenfalls im Hinblick auf „Soll-Angaben“ der Gesetzeswortlaut weiterhin Gültigkeit hat: „soll“ ist nicht „muss“. 

Eine andere Frage im Zusammenhang mit der Wirksamkeit von Kündigungen, die Teil einer Massenentlassung sind, liegt derweil noch dem EuGH zur Klärung vor. Das BAG (6 AZR 155/21 (A)) möchte wissen, welche Sanktion ein Verstoß des Arbeitgebers gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nach sich zieht. Danach hat der Arbeitgeber, der das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG mit seinem zuständigen Betriebsrat durchführen muss, der Agentur für Arbeit parallel vorab eine Abschrift der schriftlichen Mitteilung an den Betriebsrat zu übermitteln. Wenn der EuGH zu dem Ergebnis kommt, dass diese Vorschrift zumindest auch dem individuellen Arbeitnehmerschutz dient, müssen Arbeitgeber fürchten, dass alle betroffenen Kündigungen unwirksam sein können, falls sie diese formale Vorschrift missachten. Wir werden über die Entscheidung des EuGH berichten. 

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