Listing Act – Übersicht über wesentliche Neuerungen im europäischen Marktmissbrauchsrecht für Emittenten
Update Kapitalmarktrecht Nr. 57
Am 4. Dezember 2024 ist der sog. EU Listing Act in Kraft getretenen, ein Paket aus mehreren Rechtsakten des europäischen Gesetzgebers. Dadurch erfährt unter anderem auch das Marktmissbrauchsrecht einige wesentliche Neuerungen. Ziel des EU Listing Act ist es, den Kapitalmarkt in Europa attraktiver zu gestalten. Hierzu soll unter anderem die Marktmissbrauchsverordnung (Verordnung EU Nr. 596/2014 - MAR) geändert werden. Dabei sollen übermäßige Being-Public-Pflichten der Emittenten reduziert, gleichzeitig aber auch weiterhin ein angemessenes Maß an Anlegerschutz und Transparenz gewährleistet werden.
Anders als die Regelungen zur Änderung der Prospektverordnung in Bezug auf die erhebliche Erweiterung der Prospektausnahmen (vgl. hierzu Update Kapitalmarktrecht Nr. 56), gelten die Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung im wesentlichen Teilen ab kommendem Jahr, nämlich ab 5. Juni 2026. Gleichwohl ist es für Emittenten angezeigt, sich bereits jetzt mit den anstehenden Neuerungen zu befassen. Hier sind insbesondere die noch zu erlassenden delegierten Rechtsakte der EU-Kommission und die Auslegungshinweise der europäischen und deutschen Aufsichtsbehörden sorgsam im Auge zu behalten, um so bestens auf die anstehenden Änderungen vorbereitet zu sein.
Dieser Beitrag stellt die für die Praxis bedeutendsten Neuerungen im Überblick zusammen.
Änderungen im Bereich der Ad-hoc-Publizitätspflicht
Keine Pflicht zur Veröffentlichung von Zwischenschritten
Die Regelungen zur Ad-hoc-Publizitätspflicht erleben die wohl weitreichendsten Änderungen. Dies betrifft insbesondere die Publizitätspflicht im Hinblick auf sogenannte „zeitlich gestreckte Vorgänge“, also Sachverhalte, die bis zum finalen Endereignis aus mehreren Zwischenschritten bestehen. Klassische zeitlich gestreckte Vorgänge sind M&A-Transaktionen, aber auch umfangreiche Kapital- oder Umwandlungsmaßnahmen.
Die wesentlichen Neuerungen sind schnell erklärt, wobei der Teufel jedoch im Detail steckt. Zunächst müssen künftig Zwischenschritte in zeitlich gestreckten Vorgängen, auch wenn sie Insiderinformationen darstellen, nicht mehr im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung veröffentlicht werden. Veröffentlichungspflichtig soll dann allein das sogenannte „Endereignis“ sein. Dadurch soll vermieden werden, die Anleger durch die Veröffentlichung vorläufiger Informationen in einem sehr frühen Stadium zu verwirren. Da künftig keine Pflicht zur Veröffentlichung von Zwischenschritten mehr bestehen wird, entfällt dann auch die Notwendigkeit, die Veröffentlichung ggf. aufzuschieben. Aufschubbeschlüsse in Bezug auf die Veröffentlichung von Zwischenschritten sind also nicht mehr zu fassen, vielmehr sieht die MAR künftig einen gesetzlichen Aufschub der Veröffentlichung vor. Auch die diesbezüglichen Dokumentationspflichten entfallen.
Der EU Listing Act entzerrt damit das bisherige System der MAR im Zusammenhang mit Insiderinformationen. Denn zwar entfällt die Pflicht zur Veröffentlichung einer Insiderinformation, sofern sie einen Zwischenschritt in einem zeitlich gestreckten Vorgang darstellt. Gleichwohl bleibt diese Information aber eine Insiderinformation. Das bedeutet u. a.: die Insiderhandelsverbote sind weiterhin zu beachten; Emittenten und die für sie handelnden Personen müssen weiterhin auch in auf den Zugang zu jeglicher Art von Insiderinformationen Insiderlisten führen (zu den insoweit vorgesehenen Erleichterungen siehe Update Kapitalmarktrecht Nr. 55).
Geheimhaltung und Veröffentlichungspflicht bei Gerüchten
Auch bei Vorliegen „nur“ eines Zwischenschrittes besteht auch künftig die Geheimhaltungspflicht des Emittenten. Die Veröffentlichung kann daher nur unterbleiben, solange sichergestellt ist, dass die Insiderinformation, also der konkrete Zwischenschritt, geheim gehalten wird. Anderenfalls ist die Insiderinformation unverzüglich zu veröffentlichen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein Gerücht ausdrücklich auf eine nicht offengelegte Insiderinformation Bezug nimmt und das Gerücht ausreichend präzise ist. Denn dann wird vermutet, dass die Vertraulichkeit nicht mehr gewährleistet ist. Für die Praxis ist der Emittent somit neben der Geheimhaltung innerhalb der eigenen Organisation auch gehalten, entsprechende Compliance-Maßnahmen zu ergreifen, um Gerüchte am Markt zu identifizieren und zu bewerten, ob die Vertraulichkeit der Information nicht mehr gewährleistet ist.
Abgrenzung zwischen Zwischenschritten und veröffentlichungspflichtigem Endereignis
Die Praxis wird im Zuge der Neuregelung künftig vor die Herausforderung gestellt, Zwischenschritte und das jeweilige veröffentlichungspflichtige Endereignis sauber voneinander abzugrenzen. Die EU-Kommission wurde ermächtigt, in einem delegierten Rechtsakt eine nicht abschließende Liste von Endereignissen in zeitlich gestreckten Vorgängen zu erstellen und darin jeweils den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem das Endereignis als eingetreten gilt und damit offenzulegen ist. Auch die ESMA, die europäische Aufsichtsbehörde und das Deutsche Aktieninstitut, haben sich bereits mit möglichen praktisch relevanten zeitlich gestreckten Vorgängen und Endereignissen beschäftigt (siehe hier).
Am 7. Mai 2025 hat die ESMA nunmehr einen konkreten Vorschlag für eine nicht abschließende Liste von Endereignissen veröffentlicht (Final Report Technical advice concerning MAR and MiFID II SME GM). Dabei konkretisiert ESMA zunächst den Begriff des zeitlich gestreckten Vorgangs als eine Reihe von zeitlich verteilten Handlungen, Schritten oder Entscheidungen, die zumindest teilweise durch Emittenten durchgeführt werden müssen, um ein beabsichtigtes Ziel oder Ergebnis zu erreichen. Sodann die ESMA drei Kategorien zeitlich gestreckter Vorgänge identifiziert und für jede Kategorie Prinzipien zur Identifizierung des relevanten Zeitpunkts der Offenlegung festgelegt. Die ESMA differenziert zwischen Vorgängen, die vollständig intern beim Emittenten ablaufen (wie Umstrukturierungen, Kapitalerhöhungen und Dividendenausschüttungen), Vorgängen, die den Emittenten und externe Gegenparteien betreffen (wie Fusionen, Veräußerung relevanter Vermögenswerte, Verträge), sowie Vorgängen, die den Emittenten und öffentliche Behörden betreffen.
Bei Emittenten mit einem zweistufigen System der Unternehmensführung (wie etwa einer AG nach deutschem Recht), bei denen die Zustimmung des Aufsichtsorgans (Aufsichtsrat) zu einem Beschluss des Geschäftsführungsorgans (Vorstand) durch Gesetz oder Satzung vorgeschrieben ist, erkennt ESMA an; dass der Entscheidungsprozess erst mit Zustimmung des Aufsichtsorgans abgeschlossen ist. Dabei sollte der interne Entscheidungsprozess des Emittenten vorsehen, dass die Entscheidung des Aufsichtsorgans so schnell wie möglich getroffen wird, um eine rechtzeitige Offenlegung zu gewährleisten.
Rechtliche Verbindlichkeit der Regelung wird allerdings erst durch einen von der Europäischen Kommission zu erlassenden delegierten Rechtsakt geschaffen. Dieser soll auf Basis der ESMA-Beratung und weiterer Konsultationen bis spätestens Juli 2026 erlassen werden. Es bleibt daher abzuwarten, ob die Kommission dem technischen Rat der ESMA folgen wird.
Es zeichnet sich aber schon ab, dass auch nach der Änderung der Regelungen zur Ad-hoc-Publizität eine sorgfältige Abwägung, Bewertung und auch Dokumentation dieses Vorgangs im Einzelfall vonnöten sein wird. Es bleibt zu hoffen, dass der delegierte Rechtsakt hilfreiche Beispiele und Anhaltspunkte für die Praxis geben wird.
Änderungen in Bezug auf Eigengeschäfte von Führungskräften (sog. Directors' Dealings)
Eine weitere für die Praxis relevante Änderung ist die Flexibilisierung der Meldeschwellen für Directors‘ Dealings. Dabei ändert sich zunächst in Deutschland grundsätzlich erst einmal nichts, da die BaFin die nunmehr gesetzlich vorgesehene Meldeschwelle i. H. v. EUR 20.000 bereits in der Vergangenheit übernommen hatte. Die zuständige nationale Behörde, also in Deutschland die BaFin, kann aber künftig die Schwelle auf bis zu EUR 50.000 anheben. Eine solche Erhöhung des Schwellenwertes in Deutschland wäre für die Unternehmenspraxis begrüßenswert.
Änderungen in Bezug auf Rückkaufprogramme und Marktsondierung
Der EU Listing Act sieht zudem weitere Erleichterungen zur Reduzierung des administrativen Aufwandes in der Anwendung der MAR vor. Diese gelten seit Inkrafttreten des Listing Act am 4. Dezember 2024.
In Bezug auf die Meldung von Geschäften im Rahmen von Rückkaufprogrammen unter der sog. Safe-Harbour-Regelung des Art. 5 MAR sieht der Listing Act einige prozedurale Erleichterungen vor. So sind künftig keine Mehrfachmeldungen bei mehreren Aufsichtsbehörden nötig, wenn die Aktien eines Emittenten an mehreren Handelsplätzen notiert sind. Es genügt die Meldung bei der für den unter in Bezug auf die Liquidität bedeutsamsten Handelsplatz zuständigen Behörde. Zur Marktsondierung nach Art. 11 MAR wird nunmehr klargestellt, dass die dort geregelten Voraussetzungen rein fakultativ sind. Eine Offenlegung von Insiderinformationen unter Nichtbeachtung dieser Voraussetzung ist damit nicht zwangsläufig unzulässig oder unrechtmäßig; bei ihrer Beachtung wird jedoch (wie bisher) die Rechtmäßigkeit der Offenlegung angenommen (sog. Safe Harbour-Regelung). Verlieren die offengelegten Informationen ihre Eigenschaft als Insiderinformationen, ist dies den Empfängern der Marktsondierung zwar weiterhin unverzüglich mitzuteilen (sog. Cleansing). Wurde die Insiderinformation aber inzwischen anderweitig veröffentlicht wurde, kann das Cleansing nunmehr entfallen.
Auch diese Änderungen dienen dazu, die oftmals sehr formalen Vorgaben der MAR zu reduzieren und das europäische Marktmissbrauchsrecht zu entschlacken.
Fazit
Die Neuregelungen im europäischen Marktmissbrauchsrecht sind im Grundsatz begrüßenswert. Die für die Praxis weitreichenden Neuerungen im Bereich der Ad-hoc-Publizitätspflicht bergen in der Praxis aber voraussichtlich – jedenfalls bis zur Etablierung einer gewissen Verwaltungspraxis der Aufsichtsbehörden – nicht unerhebliche Fallstricke. Im Ergebnis bleibt also abzuwarten, inwieweit die konkretisierende Liste von Endereignissen in dem noch zu erlassenden delegierten Rechtsakt eine gewisse Rechtssicherheit schaffen wird. Emittenten müssen ihre bestehenden Abläufe im Hinblick auf die Behandlung von Insiderinformationen und die Aufschub-Prozesse jedenfalls bei gestreckten Sachverhalten künftig neu gestalten. Zudem wird der administrative Aufwand im Hinblick auf die Überwachung des Entstehens von Gerüchten am Markt nicht wirklich geringer werden.
Zum Thema siehe auch
- Update Kapitalmarktrecht Nr. 50: Der Ausbau der Kapitalmarktunion durch den EU Listing Act
- Update Kapitalmarktrecht Nr. 55: Listing Act – ESMA konsultiert Erleichterungen bei Insiderlisten
- Sickinger/Radke/Pfeufer, Erleichterungen für Anleihebegebungen unter dem EU -Listing Act