30.01.2023Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht Januar 2023

Rentennähe darf bei der Sozialauswahl berücksichtigt werden

Arbeitgeber müssen bei betriebsbedingten Kündigungen soziale Gesichtspunkte berücksichtigen. Dies sind die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers (§ 1 Abs. 3 KSchG). Grundannahme bei dem Kriterium des Lebensalters ist eine mit steigendem Lebensalter sinkende Vermittlungschance auf dem Arbeitsmarkt. Daher führt die Sozialauswahl in Bezug auf das Kriterium „Lebensalter“ in der Regel dazu, dass ältere Beschäftigte gegenüber ihren jüngeren Kollegen als sozial schutzbedürftiger eingestuft werden. Aber gilt das auch, wenn der Arbeitnehmer bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht oder zumindest zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis beziehen könnte?

Mit dieser Frage hat sich das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 8. Dezember 2022 (6 AZR 31/22) auseinandergesetzt.

Sachverhalt

Die Klägerin war eine 65-jährige Arbeitnehmerin, die seit 1972 bei der inzwischen insolventen Arbeitgeberin beschäftigt war. Im März 2020 sprach der beklagte Insolvenzverwalter gegenüber der Klägerin eine betriebsbedingte Kündigung zum 30. Juni 2020 aus, der ein Interessenausgleich mit Namensliste zugrunde lag. Die Klägerin war nach Ansicht des beklagten Insolvenzverwalters in ihrer Vergleichsgruppe im Rahmen der Sozialauswahl am wenigsten schutzwürdig. Sie habe als einzige die Möglichkeit gehabt, zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis – hier: nur fünf Monate später – die Altersrente für besonders langjährig Versicherte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen. Der Insolvenzverwalter kündigte die Klägerin vorsorglich erneut am 29. Juni 2020 zum 30. September 2020, wiederum gestützt auf einen Interessenausgleich mit Namensliste wegen der nunmehr beabsichtigten Betriebsstillegung nach Ausproduktion.

Die Klägerin erhob gegen beide Kündigungen Kündigungsschutzklage und war in den Vorinstanzen jeweils erfolgreich. Das Bundesarbeitsgericht hielt die erste Kündigung im Ergebnis ebenfalls für unwirksam, weil die Sozialauswahl nur die Rentennähe, nicht aber auch die anderen Sozialkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ berücksichtigt habe und deshalb grob fehlerhaft war. Die zweite Kündigung hielt das BAG hingegen für wirksam.

Entscheidung

Nach Ansicht des BAG durfte die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl im Rahmen des Kriteriums „Lebensalters“ berücksichtigt werden.

Zur Begründung führt das BAG an, dass Sinn und Zweck der Sozialauswahl sei, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Dabei sei das Kriterium „Lebensalter“ ambivalent. Zwar nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie falle aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder

-    spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters verfügen kann (sog. „Rentennähe“) oder
-    über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht.

Die Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) darf dabei nicht berücksichtigt werden, um eine auf dem Kriterium der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern zu vermeiden.

Praxistipp

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist zu begrüßen, gibt sie dem Arbeitgeber doch konkrete Hinweise, wie die „Rentennähe“ bei der Sozialauswahl berücksichtigt werden kann. Dabei ist der vom BAG bestimmten Zeitraum von zwei Jahren zwischen dem Ende des Arbeitsverhältnisses und dem Rentenbeginn als durchaus großzügig bemessen anzusehen, wenn man bedenkt, dass ältere Arbeitnehmer aufgrund der typischerweise schlechteren Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt infolge der Kündigung voraussichtlich für eine beachtliche Zeit auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen sein könnten.

Bei der Sozialauswahl ist gleichwohl darauf zu achten, nicht nur die Rentennähe zu berücksichtigen, sondern auch die weiteren Kriterien Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung.

Und was die Höhe der Sozialplanleistung angeht: Hier dürfte bei rentennahen Arbeitnehmern die Differenz zwischen dem (fiktiven) Arbeitslosengeld nach Austritt bis zum (abschlagsfreien) Rentenbeginn angemessen, aber auch ausreichend sein.

 

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