27.07.2023Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht Juli 2023

Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

ArbG Neumünster Urteil vom 23.09.2022 - 1 Ca 20b/22

Mit Urteil vom 23. September 2022 hat das Arbeitsgericht Neumünster entschieden, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dann erschüttert sein kann, wenn eine am Folgetag der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt. Dies gelte auch dann, wenn die gesamte Dauer der verbliebenen Kündigungsfrist durch eine Erst- und mehrere Folgebescheinigungen abgedeckt wird.

I. Sachverhalt

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall stritten die Parteien über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Beendigungskündigung durch die beklagte Arbeitgeberin.

Seit dem 01. Mai 2015 war der Kläger bei der Beklagten, einem Tauchunternehmen im Bereich des Unterwasserbaus, im Umfang von 50 Stunden pro Woche als Berufstaucher und Taucheinsatzleiter beschäftigt. Für jeden Taucheinsatz musste der Kläger einen Stundennachweis ausfüllen und bei der Beklagten einreichen, aus dem sich die Zeit, die Dauer und die Art der verrichteten Arbeit entnehmen lässt. In diesen Stundennachweisen war stets zwischen Tauchstunden und sonstigen Tätigkeiten zu unterscheiden. Die Stundennachweise bildeten die Grundlage für die monatlich an den Arbeitnehmer auszuzahlende Vergütung.

Am 03. Januar 2022 übergab der Kläger der Beklagten ein Kündigungsschreiben, womit er sein Arbeitsverhältnis zum 28. Februar 2022 kündigte. Sodann konsultierte der Kläger am 04. Januar 2022 seine Hausärztin, die ihn mittels Erstbescheinigung bis zum 14. Januar 2022 und sodann mittels Folgebescheinigungen vom 13. Januar 2022 (bis zum 04. Februar 2022) und vom 04. Februar 2022 (bis Montag den 28. Februar 2022) arbeitsunfähig krankschrieb. Ab Dienstag den 01. März 2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und begann seine Tätigkeit bei seinem neuen Arbeitgeber. Die Beklagte zahlte an den Kläger für die Monate Januar und Februar 2022 keine Vergütung aus. Der Kläger bezog in dieser Zeit auch kein Krankengeld.

Mit Schreiben vom 03. Januar 2022 kündigte die Beklagte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich fristgerecht zum 28. Februar 2022 und stütze sich auf einen angeblichen Arbeitszeitbetrug des Klägers, da dieser auf einer Baustelle angeblich 83 Tauchstunden, die er tatsächlich nicht getaucht war, zu Unrecht abgerechnet hatte. Zu diesem Umstand war der Kläger am 16. Dezember 2022 angehört worden.

Dagegen erhob der Kläger am 07. Januar 2023 Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Neumünster. Er behauptet in der Zeit vom 04. Januar 2022 bis zum 28. Februar 2022 arbeitsunfähig krank gewesen zu sein und meint, ihm stehe gegen die Beklagte für die genannte Zeit ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu. Zusätzlich verlangt der Kläger von der Beklagten Überstundenabgeltung sowie Urlaubsabgeltung. Insgesamt begehrt er von der Beklagten Zahlung in Höhe von 9.907,72 Euro.

Die Beklagte bestreitet, dass der Kläger in der Zeit vom 04. Januar 2022 bis zum 28. Februar 2022 arbeitsunfähig krank gewesen ist. Sie erklärt ferner die Aufrechnung mit einer Geldforderung gegen den Kläger auf Schadensersatz für die zu Unrecht abgerechneten und vergüteten 83 Tauchstunden. 

II. Die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts Neumünster

Die Klage hatte nur teilweise Erfolg.

1. Unwirksamkeit der außerordentlichen fristlosen Kündigung

Das Arbeitsverhältnis sei nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung seitens der Beklagten beendet worden. Denn es bestehe kein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB. Ein solcher wichtiger Grund sei nur dann gegeben, wen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Im Rahmen einer zweistufigen Prüfung sei zu ermitteln, ob 1. der Sachverhalt an sich dazu geeignet ist, einen wichtigen Grund darzustellen und ob 2. dem Kündigenden unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten Falles sowie der Interessenlage beider Vertragsparteien die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

Ein wichtiger Grund ergebe sich vorliegend nicht daraus, dass der Kläger nach dem Vortrag der Beklagten insgesamt 83 Tauchstunden abgerechnet habe, die er tatsächlich nicht getaucht sei, da der darauf gerichtete Vortrag der Beklagten inhaltlich nicht hinreichend substantiiert war. Weitere Kündigungsgründe seien aus Sicht der Kammer nicht ersichtlich.

Mithin endete das Arbeitsverhältnis durch die Eigenkündigung des Klägers vom 03. Januar 2022 erst mit Ablauf des 28. Februar 2022.

2. Ansprüche auf Urlaubsabgeltung und Überstundenabgeltung

Dem Kläger stehe daneben ein Anspruch auf Vergütung für den 03. Januar 2022, an dem der Kläger tatsächlich gearbeitet hatte, sowie ein Anspruch auf Überstundenabgeltung gemäß § 611a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag sowie ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung in Höhe von fünf nicht genommenen Urlaubstagen gemäß § 7 Abs. 4 BurlG zu. Mit der von ihr erklärten Aufrechnung aufgrund der angeblich von dem Kläger zu Unrecht abgerechneten 83 Tauchstunden konnte die Beklagte mangels hinreichend substantiierten Sachvortrags nicht durchdringen.

3. Kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung

Dem Kläger stehe jedoch kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Monate Januar und Februar 2022 gegen die Beklagte zu.
Ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 Abs. 1 EFZG scheitere daran, dass der Kläger nicht hinreichend dargelegt habe, in dem genannten Zeitraum arbeitsunfähig erkrankt gewesen zu sein.

Nach den allgemeinen Grundsätzen trage der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 EFZG. Dabei werde der Beweis für eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in aller Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne von § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG erbracht. Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeit komme ein hoher Beweiswert zu, da diese ausdrücklich im Entgeltfortzahlungsgesetz als Beweismittel vorgesehen sei (vgl. BAG Urt. v. 26.10.2016 - 5 AZR 167/16). Allerdings begründe eine ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine gesetzliche Vermutung für das tatsächliche Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in dem bescheinigten Zeitraum gemäß § 292 ZPO, mit der Folge, dass dem Arbeitgeber ein entsprechender Gegenbeweis offenstehe.

Wegen des hohen Beweiswertes einer vom Arbeitnehmer vorgelegten ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genüge dafür jedoch nicht ein bloßes Bestreiten der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit durch den Arbeitgeber mit Nichtwissen. Allerdings können sich Tatsachen, die den an sich hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern, sowohl aus deren Inhalt als auch aus dem darüberhinausgehenden Sachvortrag des Arbeitnehmers ergeben. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die bescheinigte krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit - wie im vorliegenden Fall - passgenau die nach einer Eigenkündigung durch den Arbeitnehmer verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt (vgl. BAG Urt. v. 08.09.2021 - 5 AZR 149/21). Das Arbeitsgericht Neumünster vertrat die Auffassung, dass in dem zur Entscheidung stehenden Fall erhebliche Zweifel an dem Beweiswert der von dem Arbeitnehmer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bestünden, zumal diese ihm eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit unmittelbar nach seiner Eigenkündigung (ab dem 04. Januar 2022) und passgenau bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses (am 28. Februar 2022) attestierte. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass sich der attestierte Zeitraum der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit aus einer Erstbescheinigung und zwei Folgebescheinigungen zusammensetzte. Es bestehe auch in dem hier vorliegenden Fall, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen Tag nach der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellt wurde, ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Eigenkündigung. Maßgebend für die Erschütterung des Beweiswertes sei zum einen, dass die attestierte Arbeitsunfähigkeit passgenau den Zeitraum bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses abdecke. Von einer Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei im vorliegenden Fall zum anderen deshalb auszugehen, weil sämtliche Bescheinigungen durch denselben Arzt ausgestellt wurden und der Arbeitnehmer unmittelbar am Tag nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig war und ein neues Arbeitsverhältnis bei einem neuen Arbeitgeber angetreten ist. Besonders auffallend sei in dem zur Entscheidung stehenden Fall gewesen, dass der letzte Tag der attestierten Arbeitsunfähigkeit auf einen Montag (28. Februar 2022) fiel und der Kläger an dem darauffolgenden Dienstag (01. März 2022) sofort wieder arbeitsfähig war. Eine derartige „Spontangenesung“ sei aus der Sicht der Kammer nicht plausibel. Darüber hinaus handelte es sich bei den beiden Folgebescheinigungen auch nicht um ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, zumal dem Kläger mit diesen entgegen § 5 Abs. 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie die voraussichtliche Arbeitsunfähigkeit für mehr als zwei Wochen im Voraus attestiert worden ist.

In der Folge bleibe es bei einer vollen Darlegungs- und Beweislast des Klägers für den Umstand, dass er in der attestierten Zeit tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Dieser Darlegungs- und Beweislast hat der Kläger, der sich einzig auf die vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen berief und keinen darüberhinausgehenden Sachvortrag leistete, nicht genügt. 

Praxishinweis

Die vorliegende Entscheidung zeigt, dass einer von einem Arbeitnehmer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst dann kein absoluter Beweiswert zukommt, wenn die Bescheinigung ordnungsgemäß von einem Arzt ausgestellt worden ist. Der einer solchen Bescheinigung an sich innewohnende hohe Beweiswert sei insbesondere dann erschüttert, wenn der attestierte Zeitraum der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit passgenau den Zeitraum zwischen einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch diese abdecke. Insbesondere ist dem Gericht dahingehend zuzustimmen, dass eine „Spontangenesung“ des Arbeitnehmers unmittelbar zu Beginn seines neuen Arbeitsverhältnisses - besonders wenn dieser mitten innerhalb einer Woche liegt - unglaubwürdig ist.

Mit der vorliegenden Entscheidung schiebt das Gericht der bei Eigenkündigungen durch Arbeitnehmer oftmals gängigen Praxis der Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum zwischen Eigenkündigung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses, in begrüßenswerter Weise einen Riegel vor. Aus Arbeitgebersicht bleibt zu hoffen, dass die Entscheidung dazu beiträgt, Arbeitnehmer von dieser mittlerweile häufig verfolgten Praxis in Zukunft abzuschrecken.

Gegen die Entscheidung wurde Berufung eingelegt. Aufgrund der gleichlautenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG Urt. v. 08.09.2021 - 5 AZR 149/21) ist jedoch davon auszugehen, dass das Urteil auch nach Durchlaufen des Instanzenzuges bestehen bleiben wird.
 

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