Die Zeitenwende bleibt (zumindest vorerst) aus – EuGH zu Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige
Update Arbeitsrecht November 2025
insb. EuGH 30.10.2025 - C-134/24
Wird in einem Betrieb innerhalb eines Zeitraums von 30 Kalendertagen eine bestimmte Schwelle an Entlassungen erreicht, liegt eine sogenannte Massenentlassung vor. Der Schwellenwert ist (beispielsweise) erreicht, wenn der Arbeitgeber in Betrieben mit (in der Regel) mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mindestens sechs oder in Betrieben mit (in der Regel) mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern zehn Prozent der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer entlässt.
Als „Entlassungen“ gelten dabei alle Beendigungstatbestände, die auf Veranlassung des Arbeitgebers erfolgen. Massenentlassungen müssen bei der zuständigen Agentur für Arbeit angezeigt werden (sog. Massenentlassungsanzeige). Die angezeigten Entlassungen werden grundsätzlich erst mit Ablauf eines Monats nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit wirksam (Entlassungssperre).
Wer im Rahmen einer Restrukturierung oder eines größeren Personalabbaus eine Massenentlassungsanzeige vorbereiten und einreichen musste, der weiß: Hierbei steckt der Teufel im Detail – die Bestimmung des „Betriebs“ und damit der Bezugsgröße für die Bestimmung des Schwellenwerts, die Berechnung der "regelmäßigen" Beschäftigtenanzahl, die Bestimmung der zuständigen Agentur für Arbeit sowie die korrekte Angabe der Anzahl und Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer, stellen Arbeitgeber oftmals vor große Herausforderungen.
Mit zwei aktuellen Entscheidungen vom 30. Oktober 2025 (Tomann C-134/24 sowie Sewel C-402/24) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun praxisrelevante Klarstellungen getroffen: Eine Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung kann nur wirksam werden, wenn zuvor die Massenentlassungsanzeige korrekt und vollständig erstattet wurde. Die nachträgliche Heilung einer fehlerhaften oder unvollständigen, aber von der zuständigen Agentur für Arbeit unbeanstandet gebliebenen Massenentlassungsanzeige ist ausgeschlossen.
Hintergrund der Entscheidungen des EuGH – Konsultations- und Anzeigeverfahren bei “Massenentlassungen”
Die Regelungen der §§ 17 ff. KSchG setzen die europäische Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG – kurz: MERL) in deutsches Recht um. Das in § 17 KSchG geregelte besondere Verfahren bei Massenentlassungen besteht aus zwei verschiedenen Teilen: (1) die in § 17 Abs. 2 KSchG normierte Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats (sofern vorhanden) auf der einen und (2) die in § 17 Abs. 1 und 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit (Massenentlassungsanzeige) auf der anderen Seite.
Allerdings regeln weder die MERL noch die §§ 17 ff. KSchG die Rechtsfolge von Verstößen gegen diese Vorgaben. Die Mitgliedstaaten haben gem. Art. 6 MERL nur sicherzustellen, dass die Einhaltung der von der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen gewährleistet wird.
Das BAG nahm bislang die Nichtigkeit der Kündigung an, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Zugangs die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht oder fehlerhaft erstattet hat. Dabei sollen nach der – äußerst streng gehandhabten Rechtsprechungspraxis des BAG – Fehler im Rahmen der „Muss-Angaben“ grds. zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen. Ob ein Fehler bei der Angabe der Berufsgruppen zur Nichtigkeit der Kündigung führt, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt. Das Fehlen von „Soll-Angaben“ soll jedenfalls nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen.
Dieses – mittlerweile sehr kleinteilige – Sanktionensystem wurde durch das BAG zuletzt allerdings grundlegend in Frage gestellt:
Der 6. Senat des BAG hat im Rahmen einer sogenannten Divergenzanfrage an den 2. Senat angekündigt, seine bisherige Rechtsprechung in Bezug auf die Rechtsfolgen einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige aufgeben zu wollen (BAG Vorlagebeschl. v. 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 (B) - Sewel).
Der 2. Senat des BAG hat die Anfrage in Form eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH beantwortet. Er teilt zwar die Auffassung des 6. Senats, dass Fehler im Anzeigeverfahren nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen müssen. Dabei sieht er aber eine mögliche Sanktion in der Entlassungssperre nach § 18 KSchG und hat entsprechend Fragen zur Auslegung von Art. 3, 4 und 6 MERL an den EuGH gerichtet (BAG Vorlagebeschl. v. 1.2.2024 – 2 AS 22/23 (A) - Tomann).
Sachverhalt des Urteils vom 30.10.2025 – C-134/24 („Tomann“)
Der Kläger war seit 1994 bei der Beklagten beschäftigt. Am 1. Dezember 2020 wurde über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt. Am 2. Dezember 2020 kündigte die Beklagte den Arbeitsvertrag des Klägers zum 31. März 2021, ohne zuvor die nach Ansicht des BAG erforderliche Massenentlassungszeige zu erstatten.
Mit seiner Klage beantragte der Kläger festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis fortbestehe, und beantragte, die Beklagten zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des gegen seine Kündigung eingeleiteten Kündigungsverfahrens weiter zu beschäftigen. Die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses sei nichtig, da die Beklagte die Massenentlassung nicht zuvor gem. § 17 Abs. 1 KSchG angezeigt habe.
Arbeits- und Landesarbeitsgericht gaben der Klage statt. Hiergegen wandte sich die Beklagte mit ihrer Revision.
Der 2. Senat des BAG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
- Ist Art. 4 Abs. 1 MERL dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
- Sofern die erste Frage bejaht wird: Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
- Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
- Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden: Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?
Entscheidung des EuGH C-134/24 („Tomann“)
Der EuGH betonte in seiner Entscheidung, dass die Kündigung eines Arbeitsvertrags im Rahmen einer beabsichtigten Massenentlassung erst nach Ablauf der Entlassungssperre von 30 Tagen wirksam werden könne und dass die Frist von 30 Tagen erst ab der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde zu laufen beginne. Dies soll der Behörde einen verbindlichen Zeitraum gewähren, um auf Grundlage aller ihr vom Arbeitgeber übermittelten Informationen zu ergründen, welche Möglichkeiten bestehen, die negativen Folgen der Entlassungen zu begrenzen und nach Lösungen für die durch die beabsichtigte Massenentlassung aufgeworfenen Probleme zu suchen (Beantwortung der ersten Frage).
Zudem entschied der EuGH, dass ein Nachholen der (fehlenden) Anzeige nach Ausspruch der Kündigung, mit der Wirkung, dass damit die Kündigung 30 Tage nach der Nachholung wirksam würde, nicht möglich sei. Zur Begründung verweist der Gerichtshof zunächst auf den Wortlaut der Art. 3 und 4 MERL, wonach der Arbeitgeber „beabsichtigte" Massenentlassungen, d.h. Massenentlassungen, die noch nicht durch die Kündigung der betreffenden Arbeitsverträge durchgeführt worden seien, anzeigen müsse. Zudem betonten die Richter in Luxemburg, dass die MERL nicht ohne Grund bestimmte Verfahrenspflichten vorsehe. Die Einhaltung dieser Verfahrenspflichten und die vorgesehene Abfolge der Verfahren diene auch dazu, den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken und insbesondere für sie die Rechtssicherheit aufrechtzuerhalten (Beantwortung der dritten Frage).
Die weiteren Vorlagefragen (Nr. 2 und 4), die darauf abzielten, ob ggf. auch eine unvollständige oder fehlerhafte Anzeige reichen könnte und ob etwaige Fehler durch einen Bescheid der Agentur für Arbeit geheilt werden könnten, hält der EuGH mangels Verfahrensrelevanz für unzulässig.
Hierzu nahm der EuGH allerdings in dem Parallelverfahren Stellung (Sewel) und entschied, dass eine unvollständige Anzeige den von der MERL verfolgten Zweck nicht erfüllen könne. Daran ändere, so der EuGH, weder ein Schweigen der Agentur für Arbeit etwas, noch eine ausdrückliche Bestätigung, dass man sich hinreichend informiert fühle. Zur Begründung führt der Gerichtshof an: Die Zeit, die die Agentur für Arbeit aufwenden müsse, um die fehlenden Informationen nachträglich zu beschaffen, ginge zu Lasten der Zeit, die ihr für die Vorbereitung ihrer Vermittlungsbemühungen zur Verfügung stehe. Zudem stellt der EuGH klar, dass die Anzeige vor Ausspruch der Kündigungen vorliegen müsse und später nicht nachgeholt werden könne.
Auswirkungen auf die Praxis
Die Hoffnung auf Unternehmensseite war groß, als der 6. Senat des BAG mit seiner Anfrage an den 2. Senat herantrat und ankündigte, von der bisherigen Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Kündigungen wegen Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige abweichen zu wollen. Die Richter aus Luxemburg haben diesem Paradigmenwechsel nun allerdings (zumindest vorerst) eine Absage erteilt.
Bei der Erstellung von Massenentlassungsanzeigen ist damit weiterhin höchste Sorgfalt walten zu lassen, da Fehler auch weiterhin folgenreiche Unwirksamkeitsrisiken begründen. Zudem ist auch das unionsrechtlich vorgeschriebene Verfahren (Konsultation des Betriebsrats, sofern vorhanden –> Massenentlassungsanzeige –> Ausspruch der Kündigungen) zwingend einzuhalten.
In Fällen, in denen die Massenentlassungsanzeige versäumt wurde, ist es demnach weiterhin erforderlich, die Anzeige vorzunehmen. Im Anschluss muss der Arbeitgeber neue Kündigungen aussprechen – die Folge sind hohe finanzielle Einbußen aufgrund der bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (der erneuten Kündigung) zu zahlenden Gehälter.
Zwar bleibt es dabei, dass MERL und EuGH den Mitgliedstaaten Spielraum bei der Regelung der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige eingestehen. Derzeit ist allerdings nicht absehbar, ob und wenn ja, in welchem Umfang der deutsche Gesetzgeber künftig von dem bestehenden Spielraum Gebrauch machen wird.