Inhaltskontrolle bei arbeitsvertraglichem Verweis auf einen Tarifvertrag
Update Arbeitsrecht November 2025
BAG, Urteil vom 02.07.2025 – 10 AZR 162/24
In der Praxis kommt es häufig vor, dass Arbeitgeber eine gewährte Jahressonderzahlung zurückfordern wollen, wenn ein Arbeitnehmer auf Grund einer Eigenkündigung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Das Bundesarbeitsgericht hatte sich in diesem Zusammenhang zuletzt mit der Frage auseinandergesetzt, ob eine solche Rückzahlung durch eine in Bezug genommene tarifliche Regelung möglich ist.
Sachverhalt
Der Kläger war seit April 2020 als Rettungssanitäter bei der Beklagten beschäftigt. Tarifgebunden war er nicht. Im Arbeitsvertrag verwies die Beklagte zeitdynamisch auf den DRK Reformtarifvertrag (RTV), formulierte daneben jedoch eigenständige arbeitsvertragliche Regelungen, unter anderem zu Nebentätigkeit, Geschenken und einer verkürzten Ausschlussfrist. Der Kläger erhielt im November 2021 eine Jahressonderzahlung gemäß § 23 RTV. Am 19. Januar 2022 kündigte er zum 31. März 2022. Die Beklagte behielt daraufhin in den Monaten Januar bis März 2022 jeweils Teilbeträge der Vergütung ein und berief sich auf § 23 Abs. 5 RTV, wonach bei Ausscheiden bis zum 31. März des Folgejahres eine Rückzahlungspflicht besteht. Der Kläger verlangte die einbehaltenen Vergütungsbeträge zurück. Während das Arbeitsgericht die Klage abwies, gab das Landesarbeitsgericht der Klage statt. Die Revision der Beklagten blieb erfolglos.
Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht verneinte eine Aufrechnungslage, weil der Beklagten weder aus einer gesonderten Vereinbarung noch aus § 23 Abs. 5 RTV ein Gegenanspruch gegen den Kläger zustand. Eine eigenständige Rückzahlungsverpflichtung war bereits mangels Schriftform nicht wirksam vereinbart. Maßgeblich war daher allein die vertragliche Bezugnahme auf § 23 Abs. 5 RTV als von der Beklagten gestellte AGB. Diese unterliegt der Inhaltskontrolle, weil der RTV im Arbeitsvertrag nicht in seiner Gesamtheit in Bezug genommen wurde. Durch die parallel ausformulierten und teils abweichenden Vertragsklauseln kommt den arbeitsvertraglichen Bestimmungen Vorrang zu; die Bezugnahme wirkt nur auf den verbleibenden Teil des Tarifvertrags. Das gesetzliche Kontrollprivileg nach § 310 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. § 307 Abs. 3 BGB greift nur bei einer Globalverweisung auf den gesamten einschlägigen Tarifvertrag, nicht bei Einzel- oder Bereichsverweisungen, selbst wenn diese einen sachlich geschlossenen Regelungskomplex betreffen. In der Sache hielt die in Bezug genommene Rückzahlungsklausel der AGB Kontrolle nicht stand. Die Jahressonderzahlung nach § 23 RTV dient jedenfalls auch als Gegenleistung für Arbeitsleistung, was sich aus der pro rata Regelung bei fehlenden Entgeltansprüchen ergibt. Einen solchen arbeitsleistungsbezogenen Entgeltbestandteil vom Fortbestand des Arbeitsverhältnisses abhängig zu machen, widerspricht dem Grundgedanken des § 611a Abs. 2 BGB und beeinträchtigt unzulässig die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit. Der Rückzahlungsvorbehalt ist daher unangemessen benachteiligend und unwirksam; eine geltungserhaltende Reduktion scheidet aus. Der Kläger hat Anspruch auf Zahlung der einbehaltenen Vergütung nebst Zinsen.
Praxistipp
Arbeitgeber, die Tarifregelungen in Arbeitsverträgen für nicht tarifgebundene Mitarbeiter nutzbar machen wollen, sollten den einschlägigen Tarifvertrag vollständig, dynamisch und ohne konkurrierende, abweichende Einzelklauseln in Bezug nehmen. Bereits punktuelle Abweichungen oder ergänzende Vertragsregelungen können dazu führen, dass das Kontrollprivileg entfällt und die in Bezug genommenen Tarifnormen der AGB Kontrolle unterliegen. Rückzahlungsvorbehalte für Jahressonderzahlungen sind in AGB regelmäßig unwirksam, wenn die Leistung – jedenfalls auch – Arbeitsentgelt darstellt. Sollen Bindungswirkungen herbeigeführt werden, kommt dies im Regime normativ geltender oder vollständig in Bezug genommener Tarifverträge in Betracht; außerhalb dessen sind alternative, wirksame Anreizsysteme und klare, tarifkonforme Gestaltungen vorzuziehen.